Politikerin Öztürk referiert am Kolleg

Bericht über den Besuch von MdL Mürvet Öztürk (Wetzlar) im HpB-Unterricht LG 49 (VK) am HKWz

„Der Islam ist eine von Grund auf friedliche Religion. Was die Salafisten machen, hat mit dem ‚wahren Islam’ nichts zu tun.“ Diese Aussage – getroffen von türkisch-stämmigen Studierenden im LG 49 (Vorkurs) am Hessenkolleg – war Anlass für eine Einladung an Mürvet Öztürk, die über die GRÜNEN-Landesliste ins Wiesbadener Parlament eingezogen ist und inzwischen den Status einer fraktionslosen Abgeordneten hat. Die 1972 im Rheinland als eins von vier Kindern einer kurdisch-alevitischen Gastarbeiterfamilie geborene Politikerin ist seit 18 Jahren mit einem sunnitisch-muslimischen Deutsch-Ägypter verheiratet und lebt in Wetzlar. Öztürk hatte sich nach der Hauptschule entschieden weiter die Schulbank zu drücken und schließlich mit 18 Jahren ihr Abi an einem Gymnasium gemacht. Als Schülerin stellte sie fest: Gymnasiasten hatten so gut wie keine Kontakte zu Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund. Bezüglich der Frage „Was fange ich jetzt mit dem Abitur an?“ entschied sich die junge Frau zunächst für den ‚sicheren Weg‘ und machte eine Lehre als Einzelhandelskauffrau. In den 90er Jahren absolvierte sie schließlich mit Hilfe eines Stipendiums der GRÜNEN-nahen Heinrich-Böll-Stiftung ein Studium der Islamwissenschaften. Im Umgang mit Behörden machte sie die Erfahrung, dass es „einen Unterschied macht, ob man einen deutschen oder einen türkischen Pass hat“ und beantragte mit 21 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie hätte sich 1994 gerne „an der versuchten Abwahl von Helmut Kohl als Bundeskanzler beteiligt“, bekam aber den Pass und die damit verbundenen staatsbürgerlichen Rechte erst 10 Tage nach dem Wahltermin zugestellt. Politisiert wurde sie durch die Brandanschläge von Mölln. Lichtenhagen und Solingen („das liegt 40 km von Mönchengladbach entfernt, wo ich herkomme“). Der Stuttgarter GRÜNEN-Spitzenmann Cem Özdemir war ihr ein Beispiel dafür, dass Nachwuchspolitiker mit Migrationshintergrund sich erfolgreich im Politikbetrieb einfügen und so die Gesellschaft durch ihr Engagement mitprägen können. Im Jahr 2000 schloss Mürvet Öztürk ihr Studium der Islamwissenschaft und Geschichte ab. Sie selbst hat eine eher distanzierte und wissenschaftliche Sicht auf Religion und Glauben, sieht sich aber dem islamischen Kulturkreis zugehörig. Ausführlich wurde vor den Studierenden des Hessenkollegs die Frühzeit des Islam dargestellt, die Persönlichkeit und Biografie des Religionsstifters Mohammed und die nach dessen Tod in 632 n. Chr. einsetzenden Streitigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten um die „legitime Erbfolge des Propheten“. Die alevitische Variante des Islam konzentriert sich auf Fragen der Kultur und Erziehung, „Strenggläubigkeit“ und „Ausschließlichkeitsansprüche“  – mithin Merkmale vieler anderer Religionen –   gehören hingegen nicht dazu. Statt auf die religiöse Autorität von Hodschas oder Imame zu bauen, bemühen sich Aleviten in eigener Verantwortung darum, eine ihnen gemäße Beziehung zu Gott zu finden. „Hier hat es in den letzten 300 Jahren unter den Muslimen leider eine Entwicklung hin zu Buchstaben- und Autoritätsgläubigkeit gegeben, weg von dem früher durchaus liberalen Rahmen unserer Religion“, bilanzierte die Religionswissenschaftlerin. Ihr zentrales Thema als politischer Mensch ist „die Vielfalt in Deutschland“. Seit kurzem hat sie einen jungen Syrer als Mitarbeiter in ihrem Abgeordnetenbüro beschäftigt, dessen 1. Station als politischer Flüchtling eine Unterkunft im Wetzlarer Kirschenwäldchen war. „Vielfalt wahren und sich entfalten lassen“ sieht Öztürk als Gegenentwurf sowohl zu Pegida/AFD als auch zu dem missionarischen Eifer von Salafisten: „Die einen fürchten um das ‚christliche Abendland‘, die anderen können sich ihr eigenes ‚Heil‘ und das anderer Menschen nur in einer strenggläubigen Islam-Variante vorstellen.“ Beide Strömungen haben Zulauf. „Überfordert uns eine komplexer gewordene Welt? Verlangen wir nach einfachen Antworten?“, stand als Frage im Raum. „Einfache Antworten sind meist unzureichend und bleiben mono-perspektivisch. Wir müssen uns komplexes Denken in einer globalisierten Welt abverlangen, sonst füllen überall Scharlatane das entstehende Vakuum aus“, ist sich Öztürk sicher. Das setze das Bemühen um eine kritische Reflexion der eigenen Denktraditionen und „Gewissheiten“ voraus. Das menschliche Verlangen nach Spiritualität und Ritualen schaffe religiöse Traditionslinien und gemeinsam geglaubte Mythen seien eine wichtige Basis für Gemeinschaftserleben. Der freie Geist müsse aber hinzukommen, wenn Verhärtungen und Feindbilder vermieden werden sollen. Den „Zwischenhändlern religiöser Botschaften“ dürfe man nicht das Feld überlassen. Gott-Suche und Religiosität sei immer mit eigenen Anstrengungen und kritischer Selbstreflexion verbunden. Allen drei abrahamitischen Religionen empfahl Öztürk die Tugend der Selbstaufklärung. Der Satz  „Die Zionisten sind an allem schuld!“ – im arabisch-muslimischen Kulturkreis keineswegs unüblich – wurde als Beispiel dafür genannt, wie sich „Verschwörungstheorien“ im religiösen Gewand der Köpfe vieler Menschen bemächtigten. Öztürk ist der Auffassung, dass der Islam vermehrt zum Fundamentalismus neigt und sich ein ausgeprägtes Täter/Opfer-Bewusstsein verbreite: „Es ist das Gefühl, durch christliche Kreuzzüge und die Kolonialzeit deklassiert und zu Opfern gemacht worden zu sein.“ Hessenkollegiatin Nadire hat bezüglich der medialen Aufbereitung von Attentaten und Schreckensnachrichten hierzulande das Gefühl, dass da ständig mit zweierlei Maß gemessen werde: „Die rund 30 Opfer kürzlich in Brüssel sind sicher schlimm. Aber wieviel Tausende sterben täglich im Nahen Osten, ohne dass das uns als Information überhaupt erreicht?!“ Ihr Mitschüler Ali bringt aus der Großstadt Stuttgart die Erfahrung mit, dass verschiedene Kulturen dort völlig entspannt miteinander umgehen. Seine Frage an Mürvet Öztürk bezog sich auf die Vielzahl von religiöser Regeln in der islamischen Religion. Außerdem äußerte er den Verdacht, dass sowohl Jesus als auch Mohammed „manisch belastete Menschen“ gewesen seien. Anthony wartete in seinem Beitrag – der schon das Format eines Co-Referates hatte –  mit Detailkenntnissen über die Lebensstationen Mohammeds und die damaligen Zeitumstände auf. Der Diskussionsbedarf war noch nicht gestillt, als die Doppelstunde „Historisch-politische Bildung“ zu Ende ging. Zur Arbeit von Landtagsabgeordneten wurde fast nichts mitgeteilt oder gefragt. Aber das lässt sich sicher nachholen. Den Gesprächstermin mit MdL Öztürk hatte Hessenkollegiatin Fidan Kirmizigül vereinbart, die in der hiesigen deutsch-türkischen Gesellschaft aktiv ist, welche mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum Funktionieren der „Modellregion Integration Lahn-Dill“ leisten möchte.