Literaratur am Kolleg – Autorin Koehncke liest

Literatur-Lesung im Rahmen der Reihe „Einheimische Autoren stellen ihre Texte am Hessenkolleg vor“ – Dietlind Koehncke (Wettenberg) liest aus ihrer in 2014 im Verlag „Größenwahn“ erschienenen Erzählung „Die Wörtersammlerin“
Im Rahmen der Literatur-Lese-Reihe „Heimische Autoren stellen am Hessenkolleg Wetzlar ihre Texte vor“ las Dietlind Koehncke (Wettenberg) vor Studierenden der Einführungsphase aus ihrer vor 2 Jahren erschienenen Erzählung „Die Wörtersammlerin“. Die 1937 in Aachen geborene Pädagogin hat ihre Kindheit in Ostberlin verbracht, in Frankfurt/M., Gießen und Marburg Philosophie und Literaturwissenschaft studiert und später als Lehrerin mit den Fächern Deutsch und Politik an beruflichen Schulen und am Hessenkolleg gearbeitet. Der teilweise autobiografischen Erzählung hatte sie zunächst den Arbeitstitel „Als ich ein Kind bin“ verliehen. In Absprache mit den Lektoren vom „Größenwahn-Verlag“ wurde schließlich „Die Wörtersammlerin“ daraus. Der retrospektive Blick in die 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hat als Fokus die Frage „Wie erklärt sich ein siebenjähriges Mädchen eine Welt, in der Begriffe wie ‚arisch‘, ‚Evakuierung‘, ‚Güterzug‘, ‚Polacken‘ oder ‚Hure‘ das Denken und Handeln der Erwachsenen bestimmen?“. Dass der Krieg plötzlich zu Ende ist, merken die Kinder daran, dass sie nicht mehr angezogen auf den Betten liegen müssen, um beim Sirenenalarm rechtzeitig wegzukommen. „Die Russen beschießen Berlin!“ – Welche Empfindungen und Vorstellungen löst diese Meldung bei einem Kind aus? Der erste leibhaftig erscheinende Russe entsteigt einem Kettenfahrzeug und „hat dieselbe Farbe wie sein Panzer“. Für die Großmutter sind Russen „Leute, die mit Stiefeln auf dem Sofa liegen und deutschen Frauen die Eheringe abnehmen“. Ein sowjetischer Militärarzt ist für die deutschen Kinder „der Doktor“. Das ihm in kindlicher Naivität gezeigte Hitlerportrait aus dem Schulbuch löst bei dem eine heftige emotionale Reaktion aus. Was mag er gegen den Führer der Deutschen haben? Verkehrte Welt?! Großvaters Zimmer heißt „Herrenzimmer“ und auf dem Rücken eines dort verwahrten Buches steht „Die Frau als Hausärztin“. Die Kinderclique setzt dem Altsprech der Erwachsenen einen eigenen Sprachcode entgegen. Statt ‚ich‘ sagen sie ‚ichichlefich‘ und aus ‚du‘ wird ‚duulefu‘. Tante Dora erregt die Aufmerksamkeit der Kinder, „weil sie oben Brüste und unten Haare hat“. Wenn Dora nachts bei Onkel Horst bleibt, nennt Großvater sie am nächsten Morgen eine ‚Hure‘. Die Kinder haben schnell kapiert, dass man vom Huresein Kinder bekommt. Sie wollen aber wissen, was genau vorher passiert. Später – der Klapperstorch hat als Erklärungsmodell schon ausgedient – dürfen die Kinder rätseln, warum 5 Mädchen aus der Klasse die Oberschule besuchen und Abitur machen, andere hingegen Briefträgerin oder Verkäuferin werden. Es scheint etwas damit zu tun zu haben, ob man bei den ‚Jungen Pionieren‘ mitmacht und sich ‚gesellschaftlich betätigt‘. In der auf die Lesung folgenden Aussprache attestierte die Buchautorin Kindern „eine große innere Kraft“. Der Kontakt zum „Kind in uns“ bleibe ein Leben lang bestehen. Und: „Ich habe den Text zunächst einmal für mich geschrieben, bevor es 2014 zur Buchveröffentlichung kam.“ An die erwachsenen Schülerinnen und Schüler richtete Dietlind Koehncke die Frage: „Wie ist das bei Ihnen? Woher beziehen Sie Informationen aus einer weit zurückliegenden Zeit? Sind da Erzählungen Ihrer Eltern und Großeltern wirksam?“. Ingo Bork (Gießen) kennt vergleichbare Geschichten von Flucht und Neubeginn aus Berichten seiner Großeltern, die vom Ruhrgebiet nach Bayern evakuiert wurden. Für Tarkan Süctü (Driedorf) ist die eigene Kindheit stets präsent, wenn aktuell Entscheidungen getroffen oder Beobachtungen interpretiert werden müssen. „Kreativ zu sein ist schön!“, nannte die pensionierte Lehrerin Koehncke als zentrales Motiv ihrer Lust am Recherchieren und Fabulieren. Neugierde beim Publikum löste der Name „Verlag Größenwahn“ aus. „Der ist aus einem linken Szene-Café in Frankfurt – dem ‚Café Größenwahn‘ – hervorgegangen. Der Verleger ist ein Grieche“, klärte Koehncke auf.
„Eine buntscheckige Kollegiatenschaft verdient ein buntscheckiges Literatur-Angebot.“ So könnte eine vorläufige Bilanz der Lesereihe „Heimische Autoren…“ lauten, bei der auch schon der Krimiautor Reiner Kotulla (Leun) und die Erzählerin Sigrid Krekel (WZ-Garbenheim) ihren Hut in den Ring geworfen haben.