Geschichte des Kollegs

Das Hessenkolleg Wetzlar wird 40 Jahre alt – eine unendliche Geschichte 

Die Anfänge

Ende April 1963 erhält der erste Leiter Herr Pusch den Auftrag vom damaligen Hessischen Kultusminister Prof. Dr. Schütte den Auftrag, in Wetzlar ein Hessenkolleg aufzubauen. Unterstützung leistete das städtische Schulamt in Wetzlar, indem es zunächst einen Büroraum und eine Schreibkraft und später auch die ersten Unterrichtsräume in der damaligen Gewerblichen Berufsschule im Franziskanerbau am Schillerplatz (heute Musikschule) zur Verfügung stellte. Weitere Hilfe leisteten die beiden schon bestehenden Kollegs in Frankfurt und Wiesbaden. Sie gaben Auskunft über die Eignungsprüfung, das Unterrichtsverfahren und die Verwaltungspraxis. Viel Mühe wurde auch auf die Werbung verwandt: das Angebot musste an potentielle Interessenten gelangen. Im Juli 1963 nahmen ca. 50 Bewerberinnen und Bewerber an der Aufnahmeprüfung teil. Am 15.10.1963 versammelte sich der Lehrgang I/63, 43 Kollegiatinnen und Kollegiaten zum ersten Mal in den Unterrichtsräumen.
Am 16.10.1963 fand dann die feierliche Eröffnung des neuen Kollegs in der Aula der Kestnerschule in Wetzlar statt.
Bereits im Oktober 1964 wurde neben dem laufenden Lehrgang I ein zweiter Lehrgang eröffnet.

Sehr bald wurden das Raumproblem und das Ausstattungsproblem deutlich: zweieinhalb Unterrichtsräume, fehlende Lehrkräfte. Das hieß Vormittags- und Nachmittagsunterricht, Stundenkürzungen und stundenweise Beschäftigung von zusätzlichen Lehrkräften. Gegen Ende des Wintersemesters 1964/65 hatte das Hessenkolleg 6 hauptamtliche und 16 nebenamtliche und nebenberufliche Lehrkräfte, z.T. auch Beschäftigte einheimischer Firmen.

Im Januar 1965 wurde der Gebäudekomplex Brühlsbachstraße 15 (Vorder-und Hinterhaus) vom Land Hessen gekauft, Verhandlungen gab es bereits seit 1963. Dezember 1964 stellte die Firma Philips im Vorgriff auf den Besitzwechsel in einer der Fabrikationshallen Stellwände auf, um drei Klassenräume zu schaffen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur noch Verwaltungs- und Konstruktionsbüros der Firma Philips in der Brühlsbachstraße.
Aber erst im Januar 1966 konnte das Hessenkolleg endgültig in die Brühlsbachstraße umziehen. Bis dahin fand Unterricht in zwei Gebäuden statt: am Schillerplatz und in der Brühlsbachstraße.
Die Verwaltung des Hessenkollegs zog in die ehemaligen Direktionsräume, der Unterricht fand in Fabrikationshallen statt.

Im Januar 1967 zog das ganze Kolleg in den kleineren Hinterbau, während der Hauptbau für Unterrichtszwecke umgebaut wurde. Auch im Hintergebäude wurden die meisten Klassenräume durch Stellwände geschaffen.
Im September 1969 erfolgte der Umzug in das vordere Hauptgebäude. Das Hintergebäude wurde erst ab Oktober 1973 umgebaut.
Das erneuerte Hauptgebäude umfasste im Erdgeschoss und Untergeschoss Klassenräume, im 1. Stock 40 Wohnräume für das Hessische Institut für Lehrerfortbildung (HILF), im 2. Stock ein Wohnheim für 40 Studierende, im Obergeschoss eine Küche mit Speisesaal, ein Sprachlabor und Nebenräume. Das Nebeneinander von Hessenkolleg und HILF war geplant, wurde aber zunehmend problematisch. Das Hessenkolleg unterschätzte den Raumbedarf aufgrund des wachsenden Zustroms an Studierenden.
„Außerdem gingen wir von einem Kollegiatentyp aus, der damals vorherrschte und den man als höflich, vernünftig und diszipliniert bezeichnen kann. Später sind viele unruhige und rebellische junge Leute bei uns eingezogen, die das Zusammenleben mit den Lehrgängen des HILF oft recht schwierig machten.“ (Bericht von OStD W. Pusch zum zehnjährigen Schuljubiläum, vgl. Interview mit Herrn Mattis in dieser Festschrift)
Kennzeichnend für den Kollegiatentyp der Anfangsphase ist seine Lernbegierigkeit und sein Aufstiegswillen. Er ist z.gr.T. männlich, kommt aus der Arbeitswelt oder einem Lehrverhältnis, muss mindestens 19 Jahre alt sein, höchstens 28 Jahre – wobei Ausnahmen möglich sind. Voraussetzung für den Einstieg ins Kolleg ist der mittlere Bildungsabschluss und eine Aufnahmeprüfung in Deutsch, Englisch, Mathematik und ein psychologischer Test . Arbeitsplatzprobleme gibt es nicht. Jeder hat für später gute Aufstiegschancen.

Die Neue Generation

Nach 3 1/2 Jahren ist eine neue Generation von Studierenden zu erkennen. Die Begründung für den Kollegeintritt ändert sich: Vielfach will man nur den Zwängen der bisherigen Berufsarbeit entkommen- genauere Zukunftsplanung ist nicht vorgesehen. Das Unbehagen gegen die Gesellschaft, das in der studentischen Jugend 1967/68 angefangen hatte, wurde auch im Kolleg spürbar: Vollversammlungen, politische Diskussionen, z.B. auch Beteiligung von ca. 50 Kollegiaten an der zentralen Demonstration gegen die Notstandsgesetzgebung und die Forderung der Studierenden nach größerer Mitbestimmung am Kolleg. Einige Wunschvorstellungen wie z.B. Mitwirkung bei der Notengebung, Forderung nach Kollektivnoten, sogar die Forderung nach Verzicht auf jede Leistungs- und Anwesenheitskontrolle sind dann Anfang der 70er Jahre wieder aufgegeben worden.
In der ganzen ersten Februarwoche 1970 berichten die Annalen von einem Schulstreik gegen die Einführung des „Numerus Clausus“ an den Universitäten. „In diese Woche fiel auch ein Besuch des neuen hessischen Kultusministers von Friedeburg in Wetzlar….Während die Tagung im Gange war, kam ein Demonstrationszug von etwa 500 Oberschülern und Kollegiaten die Frankfurter Straße hinauf. …Es lag etwas Frisches und Fröhliches über dieser Demonstration. Vor dem Versammlungslokal angekommen, hielt der Zug an, wiederholte seine Parolen und schickte dann eine Delegation in den Saal, die mit dem Minister diskutierte. Die Diskussion verlief in angemessenen und demokratischen Formen.“(Bericht von OStD W. Pusch, S.20).
Ein Ereignis im Juni 1970 machte Schlagzeilen in der „Wetzlarer Neuen Zeitung“, sorgte für öffentliche Empörung und bestimmte eine Zeitlang das Ansehen des Kollegs negativ. Eine Gruppe von Kollegiatinnen und Kollegiaten saß in ihrer Freizeit auf den Stufen des Wetzlarer Doms, sie tranken Rotwein, sangen Lieder. Ein junger Mann „oben ohne“ stieg auf die Kanzel und hielt eine Rede. Die „Wetzlarer Neue Zeitung“ berichtete darüber unter dem Titel „Oben ohne- im Dom“. Die Kirchenbehörden verzichteten auf eine Anzeige.

Aufbauphase

Anfang der 70er Jahre verläuft die Arbeit am Kolleg wieder in etwas ruhigeren Bahnen.
Die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts ist bis in die 70er Jahre noch nicht bestimmt durch Rahmenrichtlinien oder Lehrpläne, festgelegt waren seit der Einrichtung der Kollegs die Stundentafeln. Auf gemeinsamen Grundsatztagungen wurden die Bildungspläne für die Hessenkollegs zusammengestellt. Das Spezifische war zusätzlich zum üblichen Gymnasialpensum die Semesterarbeit am Lehrgangsende. Das individuell gewählte Thema sollte die Erfahrungen der Arbeitswelt mit denen des Kollegs in Beziehung setzen. Ziel war immer ein dem ersten Bildungsweg qualitativ vergleichbares Abitur zu sichern und gleichzeitig die Eigenständigkeit des zweiten Bildungswegs zu wahren. Bis zum 4. Lehrgang werden mündliche Abiturprüfungen auch in Art eines Kolloquiums abgehalten. In dieser Zeit konnten die Kollegiatinnen und Kollegiaten nach einem Orientierungssemester zwischen einem viersemestrigen sprachlichen, mathematisch-naturwissenschaftlichen oder wirtschafts-und sozialwissenschaftlichen Zweig bis zum Abitur wählen.
Nach 1970 bis zur Einführung des Kurssystems 1982 gab es das System der Schwerpunktfächer. Zu Deutsch, Englisch, Mathematik kam je nach Wahl der Studierenden ein viertes Prüfungsfach. Ziel war wie heute Stärkung der Grundbildung bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Interessensschwerpunkte der Studierenden.
Dem Zusammenhalt der Kollegs, dem Austausch von Erfahrungen und der Weiterentwicklung der Kollegs diente auch die Einrichtung des Landesrings der Hessenkollegs. Etwas später erfolgte die Gründung eines Landesrings der Kollegiaten.

Stabilisierungsphase –
Ausbau des Hessenkollegs Wetzlar – eine (un)endliche Geschichte

Mit der Einrichtung eigener Fachgruppen zur Entwicklung von Rahmenplänen für die Hessenkollegs ab 1979, die sich zwar nach den entsprechenden Verordnungen für die gymnasiale Oberstufe richten, aber die in der Praxis mit Erwachsenen bewährten didaktisch-methodischen Grundsätze berücksichtigen sollen, wird die Eigenständigkeit der Kollegs gegenüber der gymnasialen Oberstufe gesichert. So gibt es im Gegensatz zum Ersten Bildungsweg – bis heute- weiterhin das Fach Wirtschafts-und Sozialwissenschaften und das Integrationsfach Gemeinschaftskunde als Kernfach der politischen Bildung .
Mit dem 16. Lehrgang ab Februar 1982 erfolgt mit einer neuen Verordnung für die Kollegs die Umstellung auf das Punktesystem und die Einrichtung von Grund-und Leistungskursen. Die Lehrgänge werden von 5 auf 6 Semester erweitert: 2 Semester Eingangs- und vier Semester Kursphase.
Neu ist auch ab 1986 die Einrichtung eines Vorkurses mit Beginn des Lehrgangs 19 fakultativ an die Stelle der sonst üblichen Aufnahmeprüfung.

Die Studierendenzahlen nehmen zu.
Deshalb veranlasst das Hessische Kultusministerium 1983 die Erstellung von Plänen zum Ausbau des Hessenkollegs Wetzlar zwecks Erweiterung auf einen dritten Lehrgang.
Mit dem Auszug der Zweigstelle des Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung nach Weilburg Anfang 1988 rückte die Verwirklichung dieser Erweiterung in greifbare Nähe.

Im März 1988 kam die Hiobsbotschaft: Das Land Hessen beabsichtigte im 1. Stock des Hessenkollegs das Arbeitsgericht unterzubringen.
Damit wären die Pläne, das Kolleg von zwei auf drei Lehrgänge zu erweitern zunichte gewesen. Dies hätte weiterhin bedeutet: keine Aula, eine zu kleine Lehrmittel-Bücherei, kein Medienraum, zuwenig Damentoiletten, Raumnot im Wohnheim, Duschen im Keller.
In vielfältigen kreativen Aktionen machten Kollegium und Studierende auf die Probleme des Kollegs aufmerksam: u.a. findet eine Blockade in der Brühlsbachstraße durch Kollegiatinnen und Kollegiaten und eine Podiumsdiskussion mit Vertretern aller Parteien im Kolleg statt.
– Studierende tragen während einer Demonstration in Wetzlar das Hessenkolleg im Sarg symbolisch zu Grabe.
– Eine Delegation von Kollegiatinnen und Kollegiaten fährt nach Wiesbaden, um vor dem Landtagsgebäude zu demonstrieren.
– Presseveröffentlichungen werden genutzt, eine Bittschrift wird an Kultusminister Wagner überreicht aus Anlass der Aufführung des „Othello“ bei den Wetzlarer Festspielen. .
Alle setzten sich für ihr Kolleg ein, gewannen die Unterstützung aller Landtagsparteien für Umbau und Erweiterung des Kollegs und konnten verhindern, dass das Arbeitsgericht in das Hessenkolleg einzog.
Am 4. Mai 1990 fand die feierliche Eröffnungsfeier nach dem Umbau statt.
Drei Bildungseinrichtungen werden in den Gebäuden in der Brühlbachstraße untergebracht:
Die Regionalstelle das Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung im Obergeschoss des Hauptgebäudes (bis Sep.1999, dann zieht das Staatliche Schulamt ein), das Studienseminar Lahn-Dill für Grund-, Haupt- und Realschulen im Obergeschoss des Hintergebäudes.
Die übrigen Stockwerke des Vorder- und Hintergebäudes werden bis heute vom Hessenkolleg benutzt.
Hierzu die Gießener Allgemeine Zeitung vom Samstag, 5. Mai 1990
Einschub im Kasten

Die Kanalsanierung 1993 war ein weiterer „Baustein“ in der Geschichte der Umbau- und Sanierungsmaßnahmen. Der gesamte Hof musste aufgerissen werden und alle Rohre erneuert werden. Offensichtlich hatten die Rohre der Kanalisation des 1940 erbauten Fabrikgebäudes unter der Produktion der Firma Pfeiffer-Vakuumtechnik (1940 – 1945) und der Firma Philipps (1946 – 1963) gelitten. Die Rohre waren z.T. schlicht weggefressen.
Die letzte größere Aktion war 1999 die Renovierung des Heizöllagers.

„Innerer“ Umbau des Kollegs

Neben dem Umbau des Gebäudes fand auch ein kontinuierlicher innerer Umbauprozess der Hessenkollegs statt.
Die Grundausrichtung der Hessenkollegs ist seit ihrer Gründung gleich geblieben: „Als die Hessische Landesregierung im Jahre 1959 dazu überging, Hessenkollegs zu errichten, wurde dieser Schritt in der Gesellschaft als ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung des Bürgerrechts auf Bildung verstanden. Bei allen Beteiligten, insbesondere auch bei den Lehrenden an den Kollegs, bestand damals Übereinstimmung darin, daß der Weg zur Hochschulreife an dieser neuen Einrichtung anders aussehen müsse, als am Gymnasium, das damals die einzige Schulform war, die auf den Besuch der Universität vorbereitete. In den vergangenen 10 Jahren wurde nahezu in Permanenz die Diskussion um die Findung neuer Unterrichtstrukturen, neuer Formen der Kooperation zwischen Lehrenden und Lernenden geführt. Es wurde aber nicht nur diskutiert, es wurde auch verändert. Ganz ohne Zweifel ist dieser Prozeß nicht abgeschlossen, wird auch nicht zum Abschluß kommen, wenn diese Bildungseinrichtung sich in der sich ständig verändernden Gesellschaft recht verstehen will. Es wird noch eine ganze Reihe „altehrwürdiger Säulen“ unseres Schulwesens auf ihre Tragfähigkeit, insbesondere im Bereich der Kollegs untersucht werden müssen. Fragen der Notengebung und der Prüfungsordnung werden immer wieder neu überdacht werden müssen. Neue Formen der Überprüfung, ob und wie Lernziele erreicht werden, müssen gefunden werden.
Bei all diesen Bemühungen um Veränderung und Erneuerung darf an den Hessenkollegs jedoch eines nicht übersehen werden: Die Hochschulreife kann nur durch den Nachweis von Leistungen erworben werden, und zwar Leistungen jedes einzelnen, der die Hochschulreife erstrebt.“
(Zitat aus einem Brief des Hessischen Kultusministers vom 6.7.1970 an alle Kollegs – anlässlich der Verweigerung einer größeren Anzahl von Kollegiaten an der Teilnahme von geforderten Klausuren)
In „Empfehlungen zur didaktischen und methodischen Gestaltung der Arbeit an den Instituten zur Erlangung der Hochschulreife (Kollegs)“ bei Gründung der Kollegs ist zu lesen:
“ ….
1. die Kollegs geben jungen Menschen, die bereits Erfahrungen in der Arbeitswelt gesammelt heben, eine Grundbildung für wissenschaftliche Studien. Damit werden auch die Voraussetzungen für andere Berufe mit erhöhten geistigen Anforderungen geschaffen, die nicht auf ein Hochschulstudium aufbauen

III. Die besondere Arbeitsweise der Kollegs

1. Unterricht und Gemeinschaftsleben im Kolleg werden dadurch bestimmt, daß die Kollegiaten ihren Studiengang als Erwachsene aufnehmen. Sie waren alle berufstätig und mußten sich in einem begrenzten Aufgabengebiet selbständig und verantwortlich verhalten….
….
3. Schul- und Berufsausbildung der Kollegiaten sind unterschiedlich. Daher müssen vor allem im ersten Halbjahr die Unterschiede in den Kenntnissen ausgeglichen und gleichartige Arbeitsmethoden entwickelt werden…. Auch die gegenseitige Hilfeleistung in freien Arbeitsgruppen kann zur Angleichung beitragen…“.

Diese hier etwas ausführlicher zitierten Anforderungen des Kollegs sind auch noch heute gültig:
Sicherung und Ausbau der Eigenständigkeit der Kollegs und Sicherung der Qualität der Ausbildung.
Die permanente Diskussion an den Schulen des Zweiten Bildungswegs mündete Nov. 1988 in eine erste gemeinsame Verordnung für alle Schulen für Erwachsene und Juni 2000 in eine veränderte Verordnung zur Ausgestaltung der Schulen für Erwachsene. Für das Hessenkolleg bedeutete dies: für die Aufnahme ist nicht mehr der mittlere Bildungsabschluss verpflichtend, sondern die Kolleg-Aufnahme wird für den Hauptschulabschluss geöffnet – analog zu den Abendgymnasien. Der Bildungsgang gliedert sich in einen einsemestrigen Vorkurs, eine zweisemestrige Einführungsphase und eine viersemestrige Qualifikationsphase. D.h. das Abitur kann je nach Bildungsvoraussetzungen in drei oder in dreieinhalb Jahren erworben werden.
Der Unterricht wird in Pflicht- und Wahlpflichtfächern organisiert. Alle Studierenden haben gemeinsamen Unterricht in den verbindlichen vierstündigen Fächern Deutsch, Englisch, Gemeinschaftskunde und Mathematik, um die Grundbildung zu stärken. Darüberhinaus wählen die Studierenden ein weiteres vierstündiges Wahlpflichfach sowie andere drei- bzw. zweistündige Wahlpflichtfächer. Die Besonderheit des Hessenkollegs Wetzlar besteht darin, dass die Studierenden zwei weitere vierstündige Fächer wählen können, um dadurch die Wahlmöglichkeiten zu erhöhen. Aus diesen vierstündigen Fächern können die Studierenden dann ihre Leistungsfächer am Ende des 3. Qualifikationssemesters bestimmen. Neu ist auch die in der Verordnung verankerte Verpflichtung zur Entwicklung eines Schulprogramms.
Gemeinsame Lehrpläne für Hessenkollegs und Abendgymnasien bestimmen wesentlich den Inhalt der Unterrichtsarbeit in den einzelnen Fächern.

Neue Herausforderungen in den 90er Jahren – neues Jahrtausend

Nicht nur die curricularen und organisatorischen Vorgaben für den Unterricht am Kolleg haben sich seit Ende der 90er Jahre entscheidend geändert. Neue Herausforderungen bilden auch die veränderte Zusammensetzung der Studierendenschaft und die damit einhergehenden differierenden schulischen Kenntnisse, unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen und persönlichen Lebenswege. Der zielstrebige, leistungsorientierte, vorwiegend männliche Kollegiat der ersten Stunde mit klaren Berufsvorstellungen bestimmt nicht mehr das Bild – hat, wenn die Chronik des Kollegs herangezogen wird, dieses Bild auch nicht lange bestimmt -. Eine Befragung zur Motivation, die in den 80er Jahren an allen Kollegs durchgeführt wurde, hat schon damals ergeben, dass die entscheidenen Motive für den Kollegbesuch die Abkehr vom alten Beruf, der Wunsch nach Persönlichkeitsentwicklung und Neuorientierung waren.
Dies gilt auch noch heute.
Neu für die 90er Jahre sind allerdings die sehr verschiedenen schulischen und beruflichen Voraussetzungen: Hauptschulabschluss oder 11. Kl. Gymnasium; abgeschlossene Berufsausbildung oder ein Flickenteppich an Berufserfahrungen. Hinzu kommen Studierende, die ihre schulische Ausbildung in anderen Ländern begonnen haben: Spätaussiedler, Studierende aus anderen Kulturen.
All dies macht die Arbeit am Kolleg komplizierter, aber auch spannend, weil Kollegium und Schulleitung gefordert sind, sich diesen Herausforderungen zu stellen, neue Konzepte zu entwickeln und die eigene Arbeit ständig zu überprüfen.
Gemeinsames Ziel ist die Sicherung einer qualitativ guten Ausbildung für die Studierenden, damit diese sich den Anforderungen von Studium und Beruf stellen können und der Wunsch, dass Lehren und Lernen am Kolleg Freude macht. Das Kolleg soll für Bewerberinnen und Bewerber attraktiv bleiben.
– Das Hessenkolleg Wetzlar war eine der ersten Schulen, die sich an der Aktion “ Schulen ans Netz“ beteiligt hat.
– Neben der Informationstechnischen Grundbildung, die jede und jeder Studierende erhält, und dem Informatikunterricht bietet das Hessenkolleg eine Begleitausbildung „Technische Netzwerkassistentin, Technischer Netzwerkassistent im Rahmen eines Modellprojekts des Hessischen Kultusministeriums mit der Firma Cisco an. In Kooperation mit der IHK Wetzlar wird diese Zusatzqualifikation auch für Externe, Auszubildende und Berufstätige angeboten.
– Die Einrichtung eines „Internet-Cafés“, das bis zum Abend geöffnet ist, ermöglicht den Studierenden einen freien Zugang ins Internet.
– Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Methodenlernen: Alle Studierenden durchlaufen
jeweils ein zweitägiges zentrales Methodentraining im Vorkurs, im 1. und 2. Semester der Einführungsphase. Die Inhalte der zentralen Trainings werden in den einzelnen Fächern zusätzlich geübt und vertieft.
– Flankierende Maßnahmen sind Beratung und zu Beginn des Bildungsgangs Förderungsmaßnahmen in Deutsch, Mathematik und Englisch.
– Bereits im Vorkurs werden die Studierenden an projektorientierte und fächerverbindende Formen des Lernens herangeführt: nicht einzelne naturwissenschaftliche Fächer, sondern fächerübergreifende Projekte „Naturwissenschaften“ werden durchgeführt.
Der Kooperationsvertrag mit dem Naturschutzzentrum Hessen ermöglicht zusätzlich die Nutzung der Einrichtung des Naturschutzzentrums vor allem für den Biologie-Unterricht.
– Neben dem allgemeinbildenden Fächern gibt es ein spezielles Angebot in der Qualifikationsphase:
ein zweistündiger bilingualer (deutsch-englisch) Gemeinschaftskundekurs.
– Geplant ist „Darstellendes Spiel“ als Fach am Kolleg zu installieren, als Angebot im künstlerischen Bereich anzubieten- hierzu erwirbt z.Zt. ein Kollege die Fakultas.
– Das Hessenkolleg fühlt sich dem Europa-Gedanken verpflichtet. Seit drei Jahren beteiligt sich die Schule zusammen mit einer Erwachsenenbildungseinrichtung in Tyresö/Schweden und einer Sprachenschule in Chiclana/Spanien an einem Comenius-Projekt. Dieses und die 12 jährige Schulpartnerschaft mit dem Ilmenau-Kolleg in Thüringen trägt zur Erweiterung des Horizonts von Studierenden und Lehrerschaft bei.
– Öffentlichkeitsarbeit hat einen wichtigen Stellenwert.
– Das Hessenkolleg schottet sich nicht ab. Es gibt Kontakte zu den umliegenden Schulen: Lehreraustausch, gemeinsame Sprachasssistentin; gemeinsame Aktionen, z.B. zur Unterstützung der Erdbebenopfer in der Türkei nach dem August 1999; Studierende organisieren mit umliegenden Schulen Demonstration und Mahnwache nach dem 11. September 2001.
Volkshochschule, Studienseminar und Mathematikzentrum nutzen regelmäßig Räume des Hessenkollegs.

Über den normalen Unterricht hinaus gibt es vielfältige Aktivitäten: Theater-AG, Foto-AG, Studierendenzeitung, Projektwochen, Studien- und Begegnungsfahrten zu den Partnerschulen, seit
1988 ein regelmäßiges Sommerfest als Treffpunkt für Jetzige und Ehemalige, eine aktive Studierendenvertretung, ein aktiver Förderkreis von Ehemaligen.

All dies zeigt, dass das Hessenkolleg Wetzlar lebendig ist, sich weiterentwickelt und wichtiger Bestandteil von Wetzlar ist. Das Einzugsgebiet ist der gesamte Lahn-Dill-Kreis und Limburg -Weilburg. Gerade angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit von jungen Erwachsenen hat das Hessenkolleg Wetzlar an Bedeutung zugenommen. Es gibt jungen Erwachsenen eine neue Perspektive für ihre berufliche Weiterentwicklung. Die zunehmenden Berwerberzahlen bestätigen dies.
Seit 2001 sind die Hessenkollegs als Schulen für Erwachsene Referenzbereich für eine grundsätzliche Umgestaltung mit dem Namen „Neue Verwaltungssteuerung“. Diese Umgestaltung ist auf mehrere Jahre projektiert und an betrieblichen Strukturen und Abläufe orientiert, bedeutet u.a. die Einführung betrieblicher Rechnungsführung. Welche Auswirkungen dies auf die materielle Ausstattung und die pädagogische Ausrichtung des Hessenkollegs Wetzlar haben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht voll zu überblicken. In einer nächsten Jubiläumsschrift wird sicher eher darüber berichtet werden können.
Christel Streubel-Piepkorn

Wetzlar, im Mai 2003