Autorenlesung am Kolleg 2018

Bericht über die Lesung des Nürnberger Krimi-Autors Leonhard Seidl aus seinem Roman „Fronten“  Welchen Weg geht unsere Gesellschaft gerade? Kann ein buntes, vielfältiges Zusammenleben gelingen? Zu diesen Fragen hatte die Klasse 1 des 50er Lehrgangs zum Semesterende einen Schriftsteller eingeladen, der selbst Absolvent des Zweiten Bildungsweges ist. Der in Oberbayern aufgewachsene und jetzt in Nürnberg lebende Krimiautor Leonhard Seidl schreibt engagierte Prosa-Literatur. Er thematisiert die Herausforderungen, die uns in einer multikulturellen Gesellschaft begegnen. Es geht um weit verbreitete Ängste und den Mut, sich den Spaltungen der Gesellschaft entgegenzustellen. Rassistische Ressentiments und religiöser Fanatismus sind nicht angeboren. Sie entstehen in abgeschotteten, sich selbst genügenden soziokulturellen Biotopen. Die damit verbundenen psychologischen Mechanismen interessieren den 41-jährigen gelernten Krankenpfleger und Sozialarbeiter Seidl, der als Jugendlicher Punker war. Hier ist der Erzähler ganz nah dran an unseren Alltagserfahrungen. Die Handlung des vor kurzem in der Edition Nautilus erschienenen Romans „Fronten“ ist einem realen Geschehen 1988 im oberbayerischen Dorfen nachempfunden. Der als Kind aus Srebrenica geflohene Bosnier Ayyub (dt. ‚Hiob‘) Zlatar läuft in einer Polizeistation Amok und erschießt drei Polizisten. Der gleichaltrige ‚Reichsbürger‘ und Waffennarr Markus Keilhofer will  Rache nehmen und erstürmt bewaffnet eine Moschee. Die gut integrierte kurdische Ärztin Roja wird zunächst der Komplizenschaft mit dem muslimischen Amokschützen verdächtigt und gerät zwischen die FRONTEN. Wie entstehen weltanschaulich-religiöse Identitäten? Wie funktioniert Ausgrenzung und kollektive Schuldzuweisung? Der bei seinen Großeltern aufwachsende Markus Keilhofer bekommt als 13-Jähriger von denen eine Erklärung von 9/11 geliefert: „Der Jud hat die Welt im Griff. Die Weisen von Zion. So ein Turm stürzt nicht von einem Flugzeug ein. Da brauchts scho eine Bombn. Alles gesteuert von die Amis.“ Die etablierten Medien heißen im Reichsbürger-Jargon des esoterischen Großelternpaares „Lügenäther“. Auch für den ‚richtigen‘ Umgang mit dem anderen Geschlecht erteilt der Opa dem „Guggile“ genannten Buben Ratschläge: „Die Weiber sind ja so raffiniert. Zehn Minutn Rittmeister, achtzehn Jahre Zahlmeister“. Das kurdische Mädchen Roja wird im Herbst 2001 in der Schule von Mitschülerinnen aufdringlich-neugierig befragt: „Sprecht ihr denn zuhause muslimisch?“ und „Zieht denn deine Mutter beim Duschen das Kopftuch aus?“. Weil Muslime in dieser Zeit unter Generalverdacht stehen „irgendwie mit Terror zu tun zu haben“, verwischt die Mutter Hinweise auf ihr Anderssein und verzichtet auf das Kopftuchtragen. Das wiederum macht die Tochter wütend. Sie sieht die  Würde und Freiheit ihrer kurdischen Familie beschädigt. Für Markus Keilhofer sind Muslime „Arschhochbeter“ und „beschnittene Ziegenhirten“. Die Handlung erschließt sich dem Leser aus den abwechselnden Perspektiven der drei Protagonisten. Von Seidl als Erzähltechnik bewusst so gewählt, um „die Fragmentierung unserer Lebenserfahrungen und Lebenswelten“ herauszustellen. Hinzu kommen eingestreute Zeitdokumente, etwa die Berichterstattung des MÜNCHNER MERKUR über den dramatischen Amoklauf, den der von Psychosen und einer Paranoia getriebene Ayyub Zlatar als 28-Jähriger ausführt. Seidl hat zwei Jahre an dem Buch gearbeitet. Zusammen mit Schülern einer Gymnasialklasse hat er vor Ort aufwändige Recherchen durchgeführt, wozu auch Interviews mit den Angehörigen der getöteten Polizisten gehörten. In der anschließenden Diskussion brachten Studierende mit Migrationshintergrund und ein Vollbart-Träger eigene Erfahrungen zum Thema „dazugehören und draußen bleiben“ ein. Eine Frage zielte auf die Schuldfähigkeit des psychisch kranken und als Kind traumatisierten Amokläufers Ayyub Z. ab. „Der biblische Hiob ist ja ein Mensch, der unverschuldet in Not gerät und dem schwere Lasten aufgebürdet werden“, erläuterte Leonhard Seidl. Vom Gast aus Nürnberg war auch zu erfahren, dass er PEN-Mitglied und Pate der bundesweiten Initiative „SCHULEN gegen RASSISMUS – SCHULEN mit COURAGE“ ist. „Knasterfahrung“ hat er dadurch erworben, dass er sich an einer Blockadeaktion gegen die Abschiebung eines afghanischen Mitschülers beteiligt hat. Als zentrales Motiv für sein Schreiben gibt Seidl an: „Ich möchte eine spannende Geschichte erzählen. Ich gebe dabei auch muslimischen Migrantinnen eine Stimme, die sich selbst nicht öffentlich äußern. Ich zähle auf eine emanzipierte Leserschaft, der ich nicht beizubringen habe, wie sie zu denken hat. Als Utopist träume ich von einer besseren Welt mit so wenig Herrschaft wie nötig und möglichst viel kreativer Teilhabe von vielen.“ Der abschließende Applaus für den Gast aus Nürnberg zeugte davon, dass diese Form des Deutschunterrichtes eine gute Resonanz findet. Als Gäste der Lesung hatten sich mit Karin W. (Ex-LG 8) und Kai B. (Ex-LG 48, jetzt Student in Gießen) auch zwei Ehemalige an ihrer früheren Lehranstalt eingefunden. Finanziell gefördert wurde die Veranstaltung im Rahmen des bundesweiten Projektes „Demokratie leben!“. Beantragt hatte dies der Förderkreis des Hessenkollegs.