„Den Dialog nicht aufgeben!“

Vortrag von Dr. Reinhard Voß zum Palästina-Konflikt vor Studierenden der Q-Phase am 5. März 2018

Am Ende der Qualifikationsphase beschäftigen sich die Studierenden an den Schulen für Erwachsene im Fach „Historisch-politische Bildung“ mit ausgewählten „Internationalen Konflikten“. Einer der weltweit bedeutsamsten und langwierigsten Konflikte ist die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern. Um hier „aus eigener Anschauung“ gewonnene Eindrücke und Informationen einbringen zu können, hatte das Fachkollegium HpB den ehemaligen Generalsekretär von pax christi Deutschland, Dr. Reinhard Voß, als Referenten eingeladen. Voß war mit dem Zug aus Diemelstadt-Wethen angereist und wurde von Ernst von der Recke (Laurentius-Konvent Laufdorf, AK Frieden im Kirchenkreis Braunfels-Wetzlar) begleitet, der den Kontakt vermittelt hatte. Voß hatte eine längere Zeit als Friedensfachkraft der Katholischen Bischofskonferenz im Kongo gearbeitet, bevor er im Sommer 2017 für 3 Monate im Rahmen des „Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel“ des Weltkirchenrates tätig wurde. Dort hatte er mit einer Gruppe von EAPPI-Aktivisten (= Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine an Israel) die Menschenrechtssituation unter der israelischen Besatzung in Jerusalem, Bethlehem und Umgebung beobachtet. Das Programm der mit Kreuz- und Friedenstauben-Symbolik auftretenden Schlichter „unterstützt lokale und internationale Anstrengungen, die israelische Besatzung zu beenden und zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch einen gerechten Frieden beizutragen“. Alle Aktivitäten stützen sich dabei auf das Völkerrecht und die einschlägigen UN-Resolutionen. „Wir ergreifen in diesem Konflikt für keine Seite Partei und diskriminieren niemanden. Wir sind aber nicht neutral, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechts-Grundsätze und der Prinzipien des humanitären Völkerrechts geht“, heißt es in einem von Reinhard Voß im Mehrzweckraum des Kollegs verteilten Flyer. „Wir müssen uns weigern, uns als Feinde wahrzunehmen und uns entsprechend etikettieren zu lassen“, lautet eine Maxime der Zivilen Friedensdienste. Mit Kartenmaterial zur politisch-territorialen Situation im „Westbank“ genannten Palästinensergebiet informierte der Referent über das „Vermächtnis des Osloer Friedensprozesses“ der 90er Jahre, der mit einer „Zwei-Staaten-Lösung“ einen Abschluss finden sollte, dann aber 1995 mit der Ermordung des israelischen Regierungschefs Jitzchak Rabin durch einen jugendlichen, ultraorthodox-zionistischen Attentäter ein abruptes Ende fand. Der Alltag der rund 3 Millionen arabischen Palästinenser und der inzwischen mehr als 600.000 jüdischen Siedler im seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzten Westjordanland („offiziell wird dieser Landstrich – der halb so groß wie Hessen ist – von den Israelis mit den biblisch-historischen Begriffen „Judäa und Samaria“ bezeichnet“) ist spannungsgeladen. Von der UNO finanzierte Schulbauten werden von „Eretz-Israel“ (= Groß-Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan)-Anhängern des Nachts zerstört. Weil durch die Behörden keine Baugenehmigungen für neue Häuser palästinensischer Familien ausgestellt werden, gelten diese als illegal und werden demontiert. Dr. Voß zeigte Bilder eines von jüdischen Siedlungen umgebenen Jahrhunderte alten christlich-arabischen Klosters, das seine Besitzungen auf Urkunden aus der türkisch-osmanischen Zeit zurückführt: „Als Christen dürfen sie auf der benachbarten Sarrash-Farm auch Wein aus Traubenmost herstellen. Mir als fast 70-Jährigem waren die alten, kühlen Klosterräume als Ort der Ruhe und Besinnung sehr willkommen“, erinnerte sich der Referent. Im Hebroner Bergland werden palästinensische Schafhirten von jugendlichen, aus den USA eingewanderten zionistischen Aktivisten bedrängt. Ein zur Stromversorgung eines arabischen Dorfes installiertes Feld aus Solarmodulen wird von missgünstigen Nachbarn zerstört.  Weil deren Handeln illegal ist, wird es von den „Friedensstiftern“ protokolliert und zur Anzeige gebracht: „Wir überwinden unsere eigene Angst und gehen auf beide Seiten zu. Viele junge Israelis von den dort stationierten Sicherheitskräften machen ihren Job höchst unwillig. Es gibt auch einzelne Fälle von Befehlsverweigerung. Angst und Unkenntnis auf beiden Seiten lähmen die Dialogbereitschaft.“ Unter der israelischen Bevölkerung hat sich mehrheitlich eine „Wagenburg-Mentalität“ verfestigt: Es gibt in der Westbank rund 100 Checkpoints, selbst nahe gelegene Reiseziele können erst nach stundenlangem Warten erreicht werden. Der am Mittelmeer gelegene und von der radikal-islamischen Hamas beherrschte Gaza-Streifen mit seinen 2 Millionen Einwohnern ist komplett abgeriegelt, Stromversorgung, Wasseraufbereitung und Abwasserreinigung funktionieren kaum noch. „Früher haben wir friedlich zusammengelebt, es gab hier einen arabischen Markt, heute schießen sie aus dem Gaza-Streifen ihre Kassam-Raketen auf uns“, beklagte ein Bewohner der jüdisch-israelischen Siedlung Sderot am Rande der Negev-Wüste im Süden Israels. Trennung und Abschottung bewirkt auch die in 2001 begonnene,  im Zickzack durch die Westbank verlaufende Mauer, die nach ihrer Fertigstellung 750 km lang sein soll und von der israelischen Politik mit der Gefahr des Einsickerns von Selbstmordattentätern aus den besetzten Gebieten begründet wird: „Obwohl man dort von ‚heiligen Stätten‘ umgeben ist, hat man in Gegenwart dieses gegenüber dem Berliner Vorläufermodell mit 8 Metern doppelt so hohen Bauwerks kein ‚heiliges‘, sondern ein beklemmendes Gefühl“, kommentierte der Referent und zeigte Bilder von Graffitis, die – ähnlich wie jene der Berliner ‚East-Side-Galerie‘ – das „Leiden der Menschen in Kunstform“ dokumentieren. „Beet it“, lautet etwa der Appell, der neben einem stilisierten L. v. Beethoven-Kopf angebracht ist. Ein überdimensionierter Schlüssel über dem Stadttor einer arabischen Kleinstadt steht symbolisch für den Rückkehrwillen der nach der Staatsgründung Israels 1948 aus ihren Dörfern und Städten vertriebenen und geflüchteten 800.000 Palästinenser. „Weil man deren Nachkommen auch allen einen Flüchtlingsstatus zubilligt, ist deren Zahl heute deutlich größer“, informierte Voß. An der Frage nach dem Status von Ost-Jerusalem – „künftige Hauptstadt von Arabisch-Palästina?“ – und der nach dem Rückkehrrecht von Flüchtlingen in ihre ursprünglichen Siedlungen ist vor 20 Jahren der mit den „Oslo-Verträgen“ verabredete Aussöhnungsprozess mit den „Road-Map“-Vereinbarungen maßgeblich gescheitert. Gibt es einen „Hauptschuldigen“ für diesen Fall von „Politik-Versagen“? „Israel ist in einem inneren Kampf, man darf es von außen nicht dämonisieren. Wir müssen die auf Ausgleich und Versöhnung drängenden Kräfte auf beiden Seiten ermutigen“, lautet die Antwort von Reinhard Voß. Aus seiner Sicht ist es an der Zeit, dass Deutschland dem Beispiel Schwedens folgt und Palästina völkerrechtlich als Staat anerkennt. Der Weg dorthin ist gemäß seiner Prognose schwerer begehbar als noch vor 20 Jahren: „Die israelische Linke, die früher zu großen Friedenskundgebungen aufrief, repräsentiert vielleicht noch 20 Prozent der Bevölkerung. Ton-angebend sind Netanjahus Likud-Partei und die die mit ihm verbündeten Ultraorthodoxen und radikalen Siedler-Aktivisten. Die für Mai diesen Jahres von der Trump-Regierung vorgesehene Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem vertieft den Konflikt zusätzlich“. Von der konsularischen Vertretung Deutschlands in Ramallah bekamen die EAPPI-Aktivisten das Kompliment gemacht, dass deren Anwesenheit für viele Menschen ein Anlass für Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebenssituation sei und dass ihr Engagement auf die Hitzköpfe in diesem Konflikt „disziplinierend gewirkt habe“. In der anschließenden Diskussion ging es um die Rolle der UNO in diesem Konflikt und um den Inhalt von zentralen Begriffen wie „Zionismus“ und „Antisemitismus“. Das letzte der rund 50 vom Referenten gezeigten Dias zeigte die pax christi-Parole „Peace needs visions!“. Reinhard Voß und Ernst von der Recke dankten den Studierenden für ihre Aufmerksamkeit und ihr reges Interesse am Thema. Auf den Stühlen waren Flyer ausgelegt, mit deren Hilfe man sich über Zivile Friedensdienste und die Tätigkeit als ‚Ökumenischer Begleiter‘ in Konfliktgebieten näher informieren kann. Voß wollte das „durchaus als Nachwuchswerbung“ verstanden haben, da er selbst „schon eine Weile die Pensionsgrenze überschritten“ habe. HpB-Lehrer Klaus Petri überreichte dem Gast zum Abschied eine 120-minütige DVD, die ein von Schauspieler Rolf Becker moderiertes Gespräch zwischen der 83-jährigen Hamburger Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano (ehem. „Mädchenorchester Auschwitz“, heute Rap-Gruppe ‚Microphone Mafia‘) und dem israelischen Kultursoziologen Prof. Moshe Zuckermann dokumentiert.