Poetry-Slammer am Kolleg 2017

Poetry-Slam sorgt am Kolleg für Lacher, Freude… Aufmerksamkeit… und 40 selbstverfasste Sprachexperimente

Alle Jahre wieder – einen Monat nach dem Christkind – kommt das poetry-Slam-Duo Stefan Dörsing (Wetzlar, ex-Kollegiat) und Temye Tesfu (Berlin) an die Wetzlarer Erwachsenenschule. Und findet dort immer ein aufmerksames, vom kreativen Sprachspiel begeistertes Publikum. Die vom Fachbereich Deutsch vorbereitete und vom Förderkreis der Schule finanziell unterstützte Veranstaltung wurde von Klaus Petri in der Tradition von Wilhelm Buschs „Lehrer Lämpel“-Figur  eingeleitet:

„Also lautet der Beschluss, dass der Mensch was lernen muss…

(…) Nicht allein in Rechnungssachen soll der Mensch sich Mühe machen.

Sondern auch der Sprache Höh’n und Tiefen tut man gerne mal genießen.

Dass dies auch meisterlich dargebracht, ham sich Stefan und Temye auf den Weg gemacht.

Diese beiden – unverdrossen – sinnen schon auf Possen

Eure Lehrer – brav und bieder – spreizen heute nicht ihr Gefieder

Denn heute sind die Slamer da – juppheidi und juppheida.“

Der Gast aus Berlin stellte sich als Arbeiterkind vor, seine Eltern wüssten noch was ‚richtig arbeiten heißt‘, und räumte ein: „Von Arbeit kriegt man Hornhaut an den Händen, von Poetry kriegt man höchstens eine Hornbrille“. Die Künstler-Existenz: ein ‚Handwerk‘? Man selbst erlebe diese eher als ‚Sandberg‘: „Der Künstler hält sich für den Sturm – und lässt doch bloß die heiße Luft raus!“. Für Slam-Unerfahrene aus dem Publikum wurde das Format kurz erklärt: Requisiten sind nicht erlaubt, alle Texte müssen selbstverfasst sein und dürfen ein bestimmtes Zeit-Limit (6-8 Minuten) nicht überschreiten („sonst wird man von der Bühne gekärchert“). Slam-Veranstaltungen haben Wettbewerbscharakter, das Publikum ist die Jury. Die vor 30 Jahren von dem US-Trucker Marc Kelly Smith populär gemachten Sprach-Jonglagen sind keine eigene Literatur-Gattung, sondern bilden im Normalfall einen Mix aus Gereimtem und Ungereimtem, aus Zitat und Pointe, aus schrillen Phantasien, Wort-Assoziationen und lautmalerischen Experimenten. Zu jedem Kulturkreis gehören traditionelle Klischees, wie etwas sei oder bewertet werden müsse. Damit zu spielen, macht Spaß und eröffnet neue Perspektiven auf die Dinge und die Menschen, die uns umgeben: „Der’Afrikanenser‘ an sich – geerdet in Kongo-Manga-Mongo – hat Taktgefühl im Blut… und das HI-Virus!“ – das weiß man doch. Temye verriet, vor seiner Flucht nach Berlin habe er seine Jugend in einem „reaktionären, frauenverachtenden Gottesstaat“  verbracht: BAYERN! Dort muss er jodeln gelernt haben. Kostproben bajuwarischer Kehlkopfakrobatik wurden kongenial von einer blubbernd-schnalzend-glucksenden Rhythmus-Maschine begleitet, die Stefan Dörsing gekonnt zwischen seinen Stimmbändern versteckt hielt. Die Deutschen, die sowohl das „Hinspiel 1914-18“ als auch das „Rückspiel 1939-45“ verloren haben, sind auf der Suche nach ‚nationaler Identität‘: „Du suchst die Leitkultur, doch wer leiht dir Kultur?!“. Der Frage wird die Diagnose nachgereicht: „Die nationale Identität der Deutschen ist wie ein Foto-Negativ: man hat Angst davor, sich zum Positiv zu entwickeln! Und wie soll man auch wissen, wer man selber ist, wenn man andere nicht ausgrenzt?!“ An den deutschen Grenzen – im post-Schengen-Raum – heißt es seit kurzem wieder: „Weisen Sie sich aus, wir weisen Sie dann aus!“. Grenzkontrollen auch an der Pforte des ‚Alkoholiker-Himmels‘: „Das kann hier nicht unser Himmelreich sein“, sinniert der Alkoholiker, „weil dann gäbs doch BECKs“. Ein kleiner Junge fragt bei Satan nach: „Warum ließest du die Menschheit entstehen?“ – „Aus Versehen…“, erhält er zur Antwort. Und die Moral von der Geschicht‘? – „Dem Klischee entkommt man nicht“. Hessenkollegiat Luke Strom hatte in der 1. Reihe – direkt vor der Bühne – Platz genommen. Das ließ ihn im Verlauf des Bühnen-Spektakels zum Prominenten werden: „Du hast so einen schicken Schal, den tragen bei uns in Berlin die Jura-Studenten. Was hast du denn für Ziele?“, fragte ihn Temye Tesfu. „Einen guten Abschluss machen“, lautete die Antwort. „Hast du denn auch schon eine Freundin, … oder einen Freund?“, bohrte der neugierige Hauptstädter beim wortkargen Mittelhessen weiter. Um ihn dann schließlich zu fragen, ob er „Bock auf die Weltrevolution“ habe. Die Reaktion des angehenden Abiturienten  blieb reserviert, was Tesfu mit einer Einladung nach Berlin konterte: „Wir Freunde der Weltrevolution treffen uns immer donnerstags um 14.30h am Brandenburger Tor. Komm doch mal vorbei. Revolution ist ein Live-Event. Sie kann nicht auf youtube abonniert werden. Ihr Titelsong wird nicht von Hoffmann von Fallersleben, Hansi Hinterseer oder Helene Fischer intoniert werden.“  Bekannt von früheren Auftritten war die effektvoll-rhythmisch vorgetragene ‚Hommage an Oma‘ („Wer kauft dir ein Eis im Sommer? Wer setzt noch richtig Komma? …), die den Abschluss der 90-minütigen Bühnen-Show des Slammer-Duos bildete.

In den beiden Gruppen der E-Phase (LG 49) ging es in dem darauf folgenden Workshop ganz praktisch zur Sache, frei nach dem Motto des Frankfurter Mundartdichters Friedrich Stoltze: „In jedem von uns steckt en klaane Gööhde, er will nur net immer gleich eraus!“. In einer ersten Runde war jede/r aufgefordert, gemeinsam „einen Koffer zu packen“ und etwas dem Reim entsprechendes hineinzutun: „Stein, Reim, Bein, Hain, Schwein, Wein…Brian“. Von Donybelle  (LG 49/1) erfuhren ihre Mitstudierenden, dass die Sache „Schreiben“ für sie kein Neuland ist, was man der Qualität ihres Textes zum Thema „Augen“ auch anmerkte. Die Anforderung bestand für alle darin, fünf assoziative Begriffe zu einem selbstgewählten Leit-Motiv zu finden. Diese galt es dann bei der Abfassung des Textes zu vermeiden, ebenso wie den Titel selbst. Der musste von den anderen ergründet werden. Die Eleganz des Ausdrucks und der Grad an sprachlicher Phantasie wurden in einem gemeinsamen Feedback reflektiert. Karina ließ sich zum Thema „Lachen“ aus, bei Ann-Christine ging es um eine Situation zwischen Leben und Tod: „Die Reanimation“. Eduard hatte „Auto“ gewählt („Deine Freundin will bei mir auf dem Beifahrersitz Platz nehmen – und ich sage ‚Nein!‘“ ), Jonas baute seine Geschichte um eine schwarz-rote Fahne („Eintracht Frankfurt“), Cans Erinnerungen kreisten um die von der Mutter mit Spiegelei servierte Knoblauchwurst („Sucuk“), während Marius Varianten des „Chillens“ thematisierte.

Bevor man sich verabschiedete („à la prochaine!“), wurde in einem Kreislauf außerhalb des Schulgebäudes „diffus kommuniziert“. Jeder veröffentlichte einen Spontan-Text und ‚im Vorübergehen‘ erfuhr man Wort- und Gedankenfetzen von anderen. Die normale „Sender-Empfänger-Situation“ war damit aufgehoben.