„Frieden geht anders!“ – Konfliktforscherin referiert am Kolleg 2016

Bericht über den Vortrag von Dr. Christine Schweitzer (HH) zum Thema „Frieden geht anders“ am 2.3.2016 vor Studierenden des Hessenkollegs (VK LG 49 und E-Phase 2 LG 48/Gruppe 1)
Wenn Ministerin Ursula von der Leyen zusätzliche Haushaltsgelder für moderne Waffensysteme einfordert, kann sie mit öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen. Schließlich geht es dabei um „unsere Sicherheit“, die es vermeintlich mit immer ausgereifteren Tötungstechniken zu bewahren gilt. Dass diese scheinbare Sicherheitslogik in einer Zeit der Globalisierung den Realitäten und dem Sicherheitsverlangen aller Menschen nicht gerecht wird, machte ein Vortrag der Friedens- und Konfliktforscherin Dr. Christine Schweitzer im Mehrzweckraum des Hessenkollegs deutlich. Der Gast aus Hamburg hat im englischen Coventry über nicht-militärische Formen der Konfliktaustragung im Jugoslawienkrieg Ende der 90er Jahre promoviert. HpB-Lehrer Klaus Petri erwähnte in seiner Begrüßungsansprache die Städtepartnerschaft zwischen der sächsischen Landeshauptstadt Dresden und Coventry. Beide Städte wurden durch Bombardements während des Zweiten Weltkrieges erheblich zerstört. Die Glocke im Turm der vor 20 Jahren wiederaufgebauten Dresdner Frauenkirche ist ein Geschenk aus Coventry. Flugzeug- und Raketenbauteile, die bei der Luftschlacht um England zum Einsatz kamen, wurden 1940-45 im heutigen Kolleggebäude (überwiegend durch Zwangsarbeiter/-innen) hergestellt. Die damalige Rüstungsfirma „Pfeiffer Apparatebau“ wurde von Görings „Reichsluftfahrtministerium“ mit der Produktion von damals hochmodernem Kriegsgerät beauftragt. Begleitet wurde Christine Schweitzer vom Laufdorfer Friedensaktivisten Ernst von der Recke (AK Frieden im Kirchenkreis Braunfels, Wetzlarer Friedenstreff), der beruflich bei der Lebenshilfe (Arbeit mit Behinderten) tätig ist und an verschiedenen Mediations- und Streitschlichter-Projekten in Wetzlar (Anti-Aggressionstrainings in Schulen, Streetworker-Projekt im Domblick-Freibad) und im Ausland (Bosnien, Israel/Palästina) mitgewirkt hat. Im Vorfeld des Vortrages hatten sich mehrere Gruppen des Hessenkollegs die vom 15. Februar bis 3. März im Wetzlarer Dom gezeigte Ausstellung „Frieden geht anders -Beispiele ziviler Konfliktlösung“ angesehen. Es geht dort u.a. um die mit dem Namen Mahatma Gandhi verbundene Tradition zivilen Ungehorsams (passiver Widerstand, Sitzblockaden, Menschenketten), um den Kaufboykott von Früchten aus dem damaligen Apartheid-Staat Südafrika und um Beispiele für Mut und Zivilcourage Einzelner (wahrscheinlich ist es 1983 deshalb nicht zu einem atomaren Schlagabtausch der Supermächte gekommen, weil der wachhabende sowjetische Raketenbeauftragte vorschriftswidrig nicht auf den Knopf drückte). Ebenso werden UN-Blauhelm-Missionen und die Aktivitäten der KSZE/OSZE als Mediatoren in spannungsgeladenen Konflikten thematisiert. Mit Blick auf 43 aktuelle Kriege und zahlreiche Krisenherde weltweit sowie die Verlautbarungen der jüngsten „Münchner Sicherheitskonferenz“ vertritt Dr. Schweitzer die Position, dass Zielsetzungen nicht von außen aufgenötigt oder militärisch erzwungen werden dürfen, sondern von den Akteuren vor Ort mitentwickelt werden: „In Interviews mit Ex-Soldaten des Jugoslawienkrieges habe ich festgestellt, dass die zunächst ihren militärischen Tunnelblick hatten, später jedoch empfänglich für Ideen und Ziele waren, die den Gegner als potentiellen Partner anerkennen.“ Das setze Kommunikationsfähigkeit voraus, die Bereitschaft zum Interessenausgleich und die Suche nach Gemeinsamkeiten. Gewaltanwendung hingegen führe zur beiderseitigen Verhärtung, ziehe Unbeteiligte in Mitleidenschaft und beinhalte die Botschaft „nur Gewalt hilft“. Der OSZE mit ihren Langzeitmissionen in Osteuropa (aktuell z.B. in der Ostukraine) und Zentralasien bescheinigte die Konfliktforscherin diesbezüglich „eine gute Bilanz“. Für Libyen hingegen sieht sie eine erneute Militäraktion von EU bzw. NATO-Staaten herannahen. Aus Somalia und dem Südsudan wurden Beispiele für Deeskalation und Interessenausgleich angeführt. In einem Fall hatten sexuelle Übergriffe auf Frauen ein Ende, als Mitglieder einer internationalen „Peacekeeper“-Gruppe deren Weg zu Wasser-Stellen begleiteten. Ein von einem Dorfgericht verfügtes Urteil verurteile den Mörder eines Familienvaters dazu, die Verantwortung für das weitere Auskommen der Hinterbliebenen zu übernehmen. Die Blockade eines Konferenzsaales durch couragierte Afrikanerinnen nötigte die dort tagenden Streithähne zu einem Friedensschluss. Mit Blick auf den vor 22 Jahren von Hutu-Milizen begangenen Genozid an der Tutsi-Bevölkerung wusste Schweitzer zu berichten, dass Angehörige der muslimischen Minderheit in Ruanda sich nicht an dem Gemetzel beteiligt und bedrängte Nachbarn beschützt haben. Das Instrument „Wirtschaftssanktionen“ ist für Schweitzer und ihre Organisation „Bund für soziale Verteidigung e.V.“ keine wirkliche Alternative zu „militärischer Friedenserzwingung“. Sie erinnerte an eine UN-Studie, wonach rund 150 Tausend irakische Kinder infolge der Wirtschaftsblockade nach dem Irakkrieg von 1991 ihr Leben verloren. Das jüngst erzielte Atom-Abkommen mit dem Iran könne demgegenüber als Positivbeispiel für Interessenausgleich und Verzicht auf kriegerische Eskalation gelten. Weil Waffenstillstände in der Hälfte aller Fälle wieder gebrochen würden, müsse es um nachhaltige Lösungen gehen. „Gegenwärtig wird die Weltgemeinschaft dort aktiv, wo es schon brennt. Wir müssen Frühwarnsysteme entwickeln und Konfliktprävention betreiben. Das verlangt nach einer intelligenten und nachhaltigen Wirtschaftspolitik. Damit entzieht man Kriegen und Fluchtbewegungen die Grundlage“, betonte die Konfliktforscherin. Gegenwärtig sind 300 Deutsche als professionelle Friedenskräfte weltweit tätig. Viele Aktivitäten werden aber auch ehrenamtlich durchgeführt. Die Referentin nannte beispielhaft „Streitschlichter“-Initiativen, Anti-Rassismus-Projekte und Formen des interreligiösen Dialogs. Ein Bild zeigte deutsche Jugendliche bei der Olivenernte in Palästina: Ein Versuch, auf den extrem verfahrenen israelisch-palästinensischen Konflikt Einfluss zu nehmen. Einig war man sich an diesem Vormittag, dass für die aktuell in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge Soforthilfen dringend notwendig sind: „Was geben wir nicht alles für Kriege und neue Waffensysteme aus?! Da muss wenigstens hier das Gebot der Nächstenliebe gelten!“ In der engagiert geführten Diskussion im Anschluss an den Vortrag ging es um die „anthropologische Grundfrage“, ob „der Mensch“ von Natur aus eher gewalttätig und böse oder kooperativ, friedfertig und zu solidarischem Handeln befähigt sei. Nach Ansicht der Hamburger Referentin ist die menschliche Natur entwicklungsoffen: „Wir sind nicht auf eine Handlungsvariante festgelegt. Entscheidend ist immer, welche Erfahrungen wir in der Familie, im Freundeskreis und in der Gesellschaft machen. Qua Vernunft und Einsicht können wir durchaus auch für falsch erachtetes Handeln korrigieren und dieses gesellschaftlich ächten.“ Ob „der Islam“ eher für Friedfertigkeit oder eher für missionarischen Eifer und Gewalt stehe, war ein weiterer Diskussionspunkt. Muslimische Studierende aus dem Vorkurs legten Wert auf die Feststellung, dass „Salafisten“ und „Terroristen“ eine Abirrung vom wahren, friedlichen Islam darstellten. Klaus Petri erwähnte G.E. Lessings Ringparabel („Nathan der Weise“) und das Drama „Lysistrata“ des „alten Griechen“ Aristophanes als Beispiele gelungener literarischer Bearbeitung des Themas „Krieg und Frieden“. (Die Athenerin Lysistrata verabredet nach 20 Jahren Kriegselend mit ihren Geschlechtsgenossinnen aus Athen und Sparta einen ‚Sex-Streik‘, der so lange durchgehalten wird, bis ihre kriegslüsternen Gatten dem gegenseitigen Töten ein Ende setzten und respekt- und liebevolle Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Städte und Kulturen die neue, unverrückbare Norm sind.) Das Stück war vor ca. 20 Jahren ein Beitrag der damaligen HKWz-Theater-AG unter Leitung von Irmgard Mende zu den Wetzlarer Theaterfestspielen.