Theatermatinee 2014: „Die letzten Tage der Menschheit“

Bericht über die Theatermatinee mit Szenen aus dem Karl Kraus-Drama „Die letzten Tage der Menschheit…“ mit dem Schauspieler Erich Schaffner (12.9. 2014 am Hessenkolleg)

Dem Theaterspiel kommt am Hessenkolleg traditionell eine große Bedeutung zu. Das Fach „Darstellendes Spiel“ kann als Abiturfach belegt werden und in jedem Jahr werden literarische Matineen, Theaterdarbietungen und Poetry-slam-Workshops durchgeführt. Zu den Möglichkeiten des Theaters gehört es, die Menschen auf einen sinnlich-vergnüglichen Weg zum besseren Verständnis der Welt mitzunehmen. Aus Anlass der 100. Wiederkehr des 1. Weltkrieges hatte man sich im Kreis der HpB-Lehrkräfte und der Lehrer-Gesamtkonferenz für ein Theaterereignis mit Themenbezügen zur „Jahrhundertkatastrophe“ entschieden.

Im Krieg erleiden Menschen Beschädigungen an Leib und Seele. Pressenachrichten und Fernsehbilder künden nahezu täglich davon. Dass auch der menschliche Geist in Kriegszeiten auf den Hund kommt, hat vor knapp 100 Jahren der österreichische Schriftsteller, Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936) mit seinem Monumentaldrama „Die letzten Tage der Menschheit“ exemplarisch dokumentiert. Der Schauspieler Erich Schaffner macht seit vielen Jahren in Wetzlar Theaterkulturarbeit mit Arbeitslosen (Projekte zu Goethe, dem ‚falschen Kaiser‘ Tile Kolup, Georg-Büchner…). Am Hessenkolleg ist er zusammen mit seinem Pianisten Georg Klemp (Bad Nauheim) bereits mit den Programmen „Goethe für alle“ und „Verbrannte Dichter“ (Exilliteratur) aufgetreten. Der gelernte Schriftsetzer Erich Schaffner hat sein Abitur Anfang der 70er Jahre am damaligen Hessenkolleg Rüsselsheim nachgemacht und dann in Frankfurt eine Schauspiel-Ausbildung absolviert. Gegenwärtig arbeitet er an einem Programm mit Liedern und Texten von Erich Mühsam.

Schulleiterin Verena Hohoff hieß den Gast am Ende der 1. Schulwoche des Wintersemesters am Kolleg willkommen. Deutsch- und HpB-Lehrer Klaus Petri führte kurz in das Werk von Karl Kraus und die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der „letzten Tage“ ein und wünschte den rund 100 Studierenden (überwiegend aus der mit 5 Parallelklassen gerade eröffneten Einführungsphase) 90 gute Theaterminuten und ein lehrreiches Vergnügen. Die 3 Vorkursklassen des LG 47 hatten sich im vergangenen Semester im HpB-Unterricht bereits intensiv mit der Geschichte des 1. Weltkrieges befasst. Als Gast hieß Petri den Vorsitzenden des Förderkreises des Wetzlarer Kollegs, Arno Willershäuser, willkommen, bei dem er sich zugleich für die großzügige ideelle und materielle Förderung von „Aktivitäten der besonderen Art“ bedankte. Der 1939 geborene Arno Willershäuser hat zum Thema Krieg und Gewalt auch eine ganz besondere persönliche Beziehung. Er wuchs in der Nachkriegszeit  als Kriegswaise auf.

Der hochgebildete Karl Kraus zog sich in einer irre gewordenen Zeit auf eine stille Beobachterposition – etwa in Wiener Kaffeehäusern – zurück und registrierte in Alltagsszenen und Zeitungsbeiträgen minutiös die „gepanzerte Kommerzwelt“ mit ihren Lakaien aus dem Kultur- und Pressebetrieb. „Marsch, marsch, blankes Eisen in Feindesfleisch!“, entfährt es dem Typus des national-besoffenen Schriftstellers. Der kulturpessimistische Befund des „Nörglers“ lautet: „Diese Menschheit isst nicht, um zu leben. Sie lebt, um zu essen.“ Die Bewohner des „Landes der Dichter und Denker“ bekommen bescheinigt: „Bescheid wissen sie. Ihre Sprache dient eben noch dazu, Bescheid zu sagen.“  Ein Betrunkener („Typ Möbelpacker“) schnarrt, mit einer Feldpostkarte seines Neffen wedelnd,  einen „feinen Pinkel“ an: „Wos hobens denn Sie fürs Vooderland daan, Sie Pinkel, Sie?!“ Der „Kronprinz“, auf der Empore seiner Residenz-Villa stehend, ruft mit erhobenem Tennisschläger den vorbeiziehenden Soldaten-Kolonnen zu: „Macht’s brav!“. Die naive Anna ist schwanger geworden und schreibt an ihren Mann ‚im Feld‘: „Du wirst mir verzeihn. Eigentlich mag ich den anderen Kerl nicht. Und das Kind wird ja vielleicht bald sterben.“ Ein Menschenleben zählt in Kriegszeiten nichts: „Wann‘ S sechs Wochen nix von ihm g’hört hobn, gehen’S davon aus, dos er dood is!“, heißt es lapidar beim Auskunftsbüro der Militärverwaltung. Der evangelische Militärgeistliche deklamiert: „Im Streite der Nationen hat die Feindesliebe ein Ende. Töten ist dienstliche Pflicht, Dienst am Vaterland.“ Skurril der Kontrast, wenn Erich Schaffner beim häufigen Kostümwechsel mit schöner Stimme Lieder wie „Ich bete an die Macht der Liebe“ anstimmt. Dass Kriegspropaganda und Revolverjournalismus auch heutzutage als völlig normal hingenommen werden, verdeutlichen einschlägige „BILD“-Zitate aus den letzten Tagen: „Putin greift nach Europa!“, „Putins Scherge lacht uns aus. Was tut er den deutschen Geiseln?“ Vor dem Schlussapplaus sang der in Mörfelden bei Frankfurt wohnende Künstler ein Wiener Arbeiterlied aus der Revolutionszeit 1918/19, das von der Hoffnung auf eine andere Welt, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg kündet: „Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien.“