reichspogromnacht-2012

Jahrestag der Reichspogromnacht 2012

Jahrestag der Reichspogromnacht (9. Nov. 1938/2012): Die 78-jährige Wetzlarerin Gisela Jäckel als Zeitzeugin im HpB-Unterricht (LG 43/Gruppe 3)

Im Fach Historisch-politische Bildung geht es im 2. Semester der Qualifikationsphase um Deutschlands Weg „von der Demokratie zur Diktatur“. Am 9. November 2012 stand an der Tafel die Frage „9 November – Deutscher Schicksalstag?“ HpB-Lehrer Klaus Petri freute sich darüber, dass nicht wenige seiner Eleven die Daten 9.11.1918 (Novemberrevolution), 9.11.2023 (Hitler-Ludendorff-Putsch in München), 9.11.1938 (Reichspogromnacht) und 9.11.1989 (Maueröffnung/Berlin) richtig zuordnen konnten. In der Unterrichtsstunde ging es um Aspekte der NS-Judenverfolgung in Wetzlar. Dazu war die 1934 geborene Wetzlarer Bürgerin Gisela Jäckel (zusammen mit ihrem Ehemann Manfred Jäckel wohnt sie direkt vis-à-vis des Kolleggebäudes in der Brühlsbachstraße) als Gast und Zeitzeugin mit in den Unterricht gekommen, begleitet von der pensionierten Lehrerin Irmi Richter (federführend beteiligt an dem antifaschistischen Stadtführer-Projekt „Wege der Erinnerung“) und Ex-(LG 25) Kollegiatin Heike Köndgen (geb. Zelter, Lehrerin und Wetzlarer Stadtführerin). Nachdem zunächst der Anlass und die deutschlandweite Dimension der von den Nazis verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannten Geschehnisse geklärt worden waren, rückte die Dimension der Judenverfolgung vor Ort ins Zentrum des Unterrichtsgesprächs. Von den 1933 noch in Wetzlar ansässigen 132 Menschen jüdischen Glaubens wurden in den folgenden 10 Jahren 54 Bürger deportiert, 38 davon in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet. Darunter waren auch die Großeltern von Gisela Jäckel, Berta und Josef Lyon, die oberhalb des Eisenmarktes (am Liebfrauenberg) einen Gebrauchtwarenhandel betrieben. 1943 wurden sie nach Frankfurt deportiert. Von dem dort zusammengestellten Transport in Richtung Vernichtungslager überlebte niemand. Die damals 9-jährige Enkelin Gisela wurde von ihrer Mutter zum Zeitpunkt des Abtransportes der Großeltern zum Metzger geschickt, was Frau Jäckel heute als Versuch wertet, ihr die brutale Wahrheit über das Los von Oma und Opa zu ersparen. Ihre Puppe, die sie im inzwischen versiegelten Haus der Großeltern liegengelassen hatte, suchte sie anschließend in einem zur Auktionsstelle umfunktionierten Saal einer Gaststätte. Der Besitz der ausgeplünderten und ermordeten Juden war entschädigungslos „dem Reich“ zugefallen. Frau Jäckels Mutter Rosa Best wurde – als ‚jüdisches’ Elternteil einer sog. „Mischehe“- wenig später abtransportiert und in Auschwitz ermordet. Gleiches widerfuhr den beiden Schwestern Lina Wollmann und Paula Weber. Nur die 4. Tochter der Familie Lyon, Henriette Keuchler, überlebte den Holocaust. Gisela Jäckel hat ein Schreiben vom Standesamt Auschwitz an ihren Vater aufbewahrt, in dem ebenso zynisch wie lapidar der Tod der Mutter aufgrund einer Allerweltserkrankung mitgeteilt wurde. Als „Entschädigung“ für die Ermordung der Mutter erhielten die Hinterbliebenen zur Weihnachtszeit in den 50er Jahren vom Rechtsnachfolgestaat des „3. Reiches“ als Einmalzahlung 1000 DM. Von der Nachbarschaft als „Judenbalg“ geschmäht, überlebte Gisela Jäckel den 2. Weltkrieg nur mit viel Glück. Bei Luftangriffen britischer Bomber blieb ihr der Zugang zu einem Luftschutzkeller in Büblingshausen verwehrt. Sie kauerte sich mit anderen „Nicht-Ariern“ ins Gebüsch. „Konnten Sie sich nicht vom Judentum lossagen, um einen individuellen Ausweg aus der Katastrophe zu finden?“, wurde die Zeitzeugin von den Studierenden gefragt. „Ich selbst bin ja – wie mein Vater – evangelisch getauft und konfirmiert worden. Wir galten dennoch als jüdische Mischlingskinder“, lautete die Antwort. Krude Verschwörungstheorien („Der Jude ist an allem schuld!“), alttestamentarisches Sündenbock-Denken („Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht alles noch mal so gut!“, heißt es in einem SA-Lied) und idiotischer Rassenwahn (in den Biologie-Lehrbüchern der Nazi-Zeit  gab es – entsprechend den Mendel’schen Gesetzen gestaltete –  Stammbaum-Tafeln, die vor „Rassenmischung“ zwischen arischem und jüdischem „Blut“ warnten) waren die Ingredienzien der von einer Mehrheit der Deutschen bejubelten „völkischen Weltanschauung“, nicht wissenschaftliche Tatsachen. Lehrer Petri empfahl seinen Studierenden an der Stelle die Lektüre des Ödön von Horvath-Romans „Jugend ohne Gott“ aus den 30er Jahren, der die Verheerungen der zur Staatsgewalt gewordenen NS-Ideologie in Schulen und Universitäten zum Thema hat. Gisela Jäckel gab ihren Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg: „Mischen Sie sich ein, wenn Unrecht geschieht, achten Sie auf Respekt und Toleranz im Umgang miteinander, schließlich haben wir doch alle den gleichen Gott!“. Zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema NS-Zeit in Wetzlar stehen in der Lernmittelbibliothek des Hessenkollegs 100 Exemplare der 70-seitigen, im Sommer 2012 erschienenen Broschüre „Wege der Erinnerung“ zur Verfügung. Dort kann man beispielsweise erfahren, dass die ehemalige Synagoge der Wetzlarer Juden in der Pfannenstielgasse stand. Deren Inventar wurde am 9.11.1938 von SA-Männern demoliert. Bürgermeister Kindermann bedankte sich dafür in einem Schreiben und spendierte als Anerkennung 50 Reichsmark „für den nächsten Kameradschaftsabend“. Wegen der Gefahr eines Übertretens von Flammen auf benachbarte Gebäude hatte man auf die Brandschatzung verzichtet. Nachdem das Gebäude nach dem Krieg zunächst als Lagerstätte für Bierkästen gedient hatte, wurde es 1958 abgetragen. Anders als in Gießen gibt es in Wetzlar heute keine jüdische Gemeinde.

In einer Diskussion nach Verabschiedung der Gäste ging es unter anderem um die Frage, ob als Zeitzeugen – außer den Opfern von Gewaltverbrechen – auch Menschen mit „Täterbiografien“ angehört werden sollten. Das Beispiel des Schriftstellers Günter Grass, der als 17-Jähriger für einige Wochen der Waffen-SS angehört hatte, machte anschaulich, dass die damit aufgeworfenen Fragen keine leichten sind. Keine Frage war es, darin waren sich alle Beteiligten einig, dass man gemeinsam eine höchst spannende Geschichtsstunde erlebt hatte.