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Bericht über den Besuch der Ausstellung über jüdische Familien in Wetzlar im Stadtmuseum durch eine Schülergruppe des Hessenkollegs in Begleitung von Zeitzeugin Gisela Jaeckel

Das aktuelle Unterrichtsthema im politisch-historischen Unterricht der Klasse LG 41/2 am Hessenkolleg lautet „Von der Demokratie zur Diktatur“. Diesen Wechsel von der Weimarer Republik zum braunen Terror ließ sich Hessenkollegiat Simon Lehnhardt von Zeitzeugin Gisela Jaeckel  (Geburtsjahrgang 1934) schildern, deren jüdische Verwandte von den Nazis ermordet wurden. Frau Jaeckel ist Nachbarin des Hessenkollegs, sie wohnt mit ihrem Ehemann auf der gegenüberliegenden Seite der Brühlsbachstraße. Dem Vier-Augen-Gespräch folgte ein gemeinsamer Besuch der aktuellen  Ausstellung im Stadtmuseum über das Schicksal jüdischer Wetzlarer Familien im 20. Jahrhundert. Gisela Jaeckel zeigte den Studierenden einen von der Lagerkommandantur Auschwitz verschickten Originalbrief vom 21. Januar 1944. Darin wird dem Wetzlarer Willy Best aus der Krämerstraße 17, Frau Jaeckels nicht-jüdischer Vater, der Tod seiner Ehefrau Rosa Best (geb. Lyon) infolge „Akute(m) Magen-Darmkatarrh“ mitgeteilt. Die zynische Lüge über die Todesumstände in Auschwitz findet sich stereotyp auch in anderen Dokumenten der Ausstellung wieder. Gisela Jaeckels Onkel Max Weber war aufgefordert, sich von seiner Frau Paula (geb. Lyon) zu trennen. Er sprach beim NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Haus vor, um einen Abtransport seiner Frau zu verhindern: „Wie soll ich denn alleine mit 5 kleinen Kindern klarkommen?“ Die brutale Antwort: „Seien Sie froh, dass Sie Ihre Frau los sind! Und was die Judenbälger angeht, die hängen wir mal gelegentlich auf.“ Die Leitz-Familie sorgte dafür, dass Witwer Max Weber eine Haushälterin zur Seite gestellt wurde. Beim Abtransport (in 1942) ihrer Großeltern Josef und Rosa Lyon, die am Liebfrauenberg in der Wetzlarer Altstadt einen Gebrauchtwarenhandel betrieben, war die 8-jährige Enkelin Gisela nicht zugegen. Sie suchte nachher vergeblich nach ihrer Puppe. Das Haus war bereits verplombt. Das Mobiliar wurde öffentlich versteigert. Den überlebenden Familienmitgliedern wurde dafür nach dem Krieg die Summe von 210,75 DM als Entschädigung gezahlt. Eine Einmalzahlung von  1.000 DM erhielt Frau Jaeckel gemeinsam mit ihrer Schwester am 22.12.1956 vom „Sozialausschuss der Verfolgten des Nationalsozialismus“ als Ausgleich für den Mord an ihrer Mutter zugeteilt. Hessenkollegiat Mohammad Fattahi fiel ein Ausstellungsdokument auf, wo sich der damalige Wetzlarer Bürgermeister Kindermann bei der örtlichen SA für die Ausschreitungen während der Reichspogromnacht am 9.11.1938 bedankt und 50 Reichsmark für den nächsten „Kameradschaftsabend“ ‚springen lässt’. Nicht alle Juden waren reich, wie der von den Nazis geprägte Begriff „Reichskristallnacht“ suggeriert. „Warum haben Sie nicht versucht auszuwandern?“, interessierte die Studierenden. „Wo sollten wir denn hin? Wir hatten doch kein Geld für einen Neubeginn in Übersee“, gab Frau Jaeckel zur Antwort. Mit einem Eintrag ins Gästebuch der noch bis zum 3. Oktober geöffneten Ausstellung bedankte sich die Schülergruppe bei der Stadt Wetzlar und bei ihrer Begleiterin für die „lebendige Geschichtsstunde“. Frau Jaeckel sprach von der Notwendigkeit, aus dem Unheil der Vergangenheit zu lernen und plädierte gegenüber den jungen Leuten für Toleranz und Mitmenschlichkeit: „Wir haben doch letztlich alle den gleichen Gott.“