Vortrag zur Suchtprävention

Bericht über einen Themen-Vormittag zu Drogenkonsum und Suchtprävention am Hessenkolleg

Menschliche Süchte und Drogen – ein Thema so alt wie die Menschheit selbst. Eine Woche vor den großen Ferien hatte die Wetzlarer Erwachsenenschule mit Dr. Bernd Hündersen und Tim Bohumil aus Gießen zwei Referenten eingeladen, die – in spannender und unterhaltsamer Form – alte Einsichten und neue Erkenntnisse bzw. Bewertungen zum Thema vortrugen. Der Fokus der knapp vierstündigen Veranstaltung lag dabei auf Haschisch- bzw. THC-Konsum. Die Kollegiaten der Lehrgänge 48, 49 und 50 (Vorkurs) zeigten sich interessiert am Thema und gut informiert. Eine rege Diskussion begleitete die mit aufmerksamer Stille verfolgten Ausführungen des Leiters des Gießener Suchthilfezentrums Hündersen und des 38-jährigen Abendgymnasiasten und ehemaligen Drogenabhängigen Bohumil.

Spannungsbogen zwischen Genuss, Gefährdung und Abhängigkeit

Alkohol ist statistisch gesehen mit weitem Abstand die „Volksdroge Nr. 1“. 40 Prozent der bei der Suchthilfe Ratsuchenden sind allerdings „THC-Klientel“. Und „Suchtverhalten“ ist alles andere als ein Randgruppen-Phänomen, greift vielmehr weit in den Alltag von „Normalos“ hinein. Hündersen nannte die Lebensbereiche „Alkohol“, „Essen“, „Sex“, „Arbeit“, „Kaufen“ und „Medien“, um die Allgegenwärtigkeit der Gefahrenpotentiale für Gesundheit, Wohlbefinden und eine selbstbestimmte Form der Lebensführung aufzuzeigen. Die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung sei hier etwas ganz Entscheidendes, diese gehe nämlich mit dem Prozess des Süchtig-Werdens verloren. Wo hört maßvoller Genuss auf und wo beginnt Suchtverhalten? Der Genießer hat sich die Fähigkeit bewahrt, aktuell gegen den eigenen Impuls handeln zu können. Seine innere Stimme sagt ihm: „Ich will nicht auf die erste Einheit verzichten, die bedeutet mir Zuwachs an Lebensqualität. Ich kann aber problemlos bei der dritten, vierten oder fünften Einheit aufhören“. Der Süchtige kann das nicht. Den Genießer – beispielsweise eines trockenen Rotweins – verlangt es auch nicht nach Substitutionsmöglichkeiten. Ein Alkoholabhängiger hingegen wird gegebenenfalls auch zur Flasche mit Kräuterlikör oder lieblichem Weißwein greifen.

Lebenskrisen sind „gigantisch große Einfallstore für Suchtpotentiale“

Stress und Frusterfahrungen (beispielsweise vom Partner verlassen zu werden) können zu Verhaltensweisen führen, die unter normalen Umständen nicht auftreten würden. Guter Wille und Selbstdisziplin sind dann eine notwendige Voraussetzung, um ‚selbstfürsorglich‘ zu agieren. Aber: „Disziplin ist in unserer Kultur nicht sehr populär und beliebt“, lautet der Befund des Drogenberaters. Dass die Trennung von einem langjährigen Partner zuweilen auch als „heilsamer Schock“ wirken kann, machte Hündersen an einem Fallbeispiel aus seiner therapeutischen Praxis deutlich. Der verlassene Partner lernte notgedrungen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und seinem Leben eine andere Orientierung zu geben. Zur Verhaltens-Agenda von Süchtigen gehört Fremd- oder Selbstschädigung. Das kann eine gesundheitliche, eine juristische, eine wirtschaftliche, eine familiär-soziale oder eine betrieblich-schulische Dimension haben. Bei Alkoholikern ist eine erhöhte Aggressivität – zuweilen in Kombination mit sexueller Übergriffigkeit – Teil des Erscheinungsbildes. Versagt die Selbstkontrolle der Betroffenen, ist eine Fremdintervention geboten. Der „Suchtdruck“ ist der kaum zu bändigende Wunsch etwas zu konsumieren, gegen das der Verstand vergeblich sein Veto einlegt. Ein Kollegiat berichtete von schnell erreichten Grenzen, wenn man als Laie komplexe Depressionserscheinungen bei einem anderen Menschen lindern helfen möchte: „Ich bin da gescheitert, der Bekannte brauchte professionelle Hilfe. In eigener Sache ist es mir aber mit Hilfe von Nikotinkaugummis gelungen, dass ich seit 5 Monaten kein Verlangen mehr nach Zigarettentabak habe.“

Ex-User: „Bock auf Arbeit hatte ich noch nie im Leben. Ich war damals schon ganz schön verpeilt.“

Tim Bohumils Eltern waren „Hippies“, haben ihn „locker“ erzogen. Mit 10 Jahren hat er das erste Mal gekifft, mit 14 dann mit Amphetaminen, Ecstasy und LSD hantiert:  „Meine Eltern haben da nichts dazu und nichts dagegen getan. Die gaben mir den Hausschlüssel – nach dem Motto ‚wenn die Laternen wieder ausgehen biste wieder zuhause‘“, berichtete der aus dem Ruhrgebiet stammende 38-Jährige, der nach dem Erwerb der Fachhochschulreife in Frankfurt das Studienfach „Soziale Arbeit“ belegen wird und sich beruflich um Drogenabhängige kümmern möchte. „Meine über 20-jährige Drogenabhängigkeit sehe ich so gesehen als Praktikumserfahrung und Investition in meine künftige Tätigkeit an“, bemerkte Bohumil, der auch einige Monate Knasterfahrung hat, lakonisch. Eine Ausbildung zur Gastronomie-Fachkraft war vorzeitig abgebrochen worden. Als heroinabhängiger Kellner war er verhaltensauffällig und für den Arbeitgeber nicht mehr tragbar: „Ich hab‘ mir in der Zeit alles reingezogen, was auf diesem Planeten irgendwie schwindelig macht.“ Therapieangebote hat er nicht ernsthaft angenommen. Das Motiv, sich dennoch in Therapie zu begeben: „Ich wollte andere damit beruhigen“. In Göttingen lebte er in einem „Bunker“ genannten Hochhaus, „wo das ganze Pack wohnt“: „Das war für mich der Himmel auf Erden. Man bekam alles an Drogen, was gerade auf dem Markt war. Ich hätte für Drogen auch gemordet. Das war mir scheißegal. Mit 28 Jahren wog ich – bei 182 cm Körpergröße – noch 52 Kilo, das Elternhaus als letzter Anker zur normalen Welt drohte auch verlorenzugehen. Ich konnte kaum einen Stift in der Hand halten, als ich in Fleckenbühl im Landkreis Marburg mit einer erheblichen Polamidon-Dosis in einer Therapieeinrichtung aufschlug. Dort habe ich dann 26 Monate gelebt und nach und nach wieder Boden unter die Füße bekommen. Jetzt bin ich stolz darauf, zweieinhalb Jahre clean zu sein. Mein Freundeskreis ist heute auch ein anderer. Früher habe ich mich nicht als Loser gefühlt, ich hatte ja alles, was ich wollte. Heute – im Rückblick – gibt’s ein Bedauern, was andere in meinem Alter schon alles erreicht haben.“ Auf die Frage, ob er nicht Angst vorm ‚Goldenen Schuss‘ gehabt habe, antwortete Tim: „Das ist dir dann ziemlich egal, Hauptsache es knallt ziemlich rein. Je mehr drinne ist, umso mehr turnt das auch.“ Während ihm früher Mathe-Aufgaben leichtfielen, kommt er als Schüler des 2. Bildungsweges heute schnell an Grenzen: „Differentialrechnung geht mit Anstrengung vielleicht noch. Integrale berechnen? Für mich ein Ding der Unmöglichkeit!“.

Heroin-Konsum: „Es geht einem scheinbar gut, man fühlt sich leicht, muss keine Frustrationstoleranz aufbringen.“

Die psycho-neuronalen Grundlagen einer körperlicher Abhängigkeit von einem Suchtstoff erläuterte Bernd Hündersen am Beispiel des Heroin-Konsums: „Nach nur 0,7 Sekunden passiert das Heroin die Blut-Hirn-Schranke. Es wirkt in unserem Zentralen Nervensystem wie das körpereigene Glückshormon Endorphin. Das spontane Empfinden ist ‚mir geht es gut, alles ist easy going‘. Das Tückische dabei: Die Produktion von körpereigenen Endorphinen wird eingestellt. Der Organismus registriert, dass er von außen versorgt wird. Es baut sich eine Sucht nach immer neuen Heroin-Dosen auf. Und ein Opiate-Entzug ist nichts Schönes, obwohl er medizinisch weniger gefahrenvoll ist als etwa ein Alkohol-Entzug, wo es zu einem tödlichen Herz-Kreislauf-Versagen kommen kann.“

Haschisch-Konsum: Die seelisch-psychische Abhängigkeit ist das Problem – und der irreversible Verlust an geistigen Fähigkeiten und Lebenstauglichkeit

Eine drohende körperliche Abhängigkeit kann im Fall des Kiffens vernachlässigt werden. Geht der Haschisch-Konsum aber über gelegentliche, übers Jahr verteilte Joints hinaus, sind die Folgen dramatisch: Die Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit lässt deutlich nach, die intellektuelle Koordination („Zusammenhänge begreifen“) wird chronisch beeinträchtigt, ein Verlust von 9 bis 11 IQ-Punkten behindert die Rückkehr in normale Lebenszusammenhänge oder macht sie unmöglich. Lethargie, Interesselosigkeit und Phlegma verbauen dauerhaft ein vitales, sinnenfrohes Lebensgefühl. Hündersen berichtete von der Katerstimmung eines Fußballprofis, der sich als Gelegenheitskiffer seine sportliche Karriere verbaut hat. Ein älterer Mann hatte das Gefühl dafür verloren, dass er wochenlang nicht mehr geduscht hatte und bestialisch stank. Andere werden beziehungsunfähig: der egoistische Tunnelblick verbaut die Perspektive auf andere Menschen. Zum üblichen Bild gehört auch die sogenannte ‚Abstinenz-Depression‘, die oft mit Aggressivität einhergeht. Zudem ist das Psychose-Risiko eklatant erhöht: „Bei der Zahl der Einweisungen in die Akut-Psychiatrie stehen bei uns in Gießen die Cannabis-Konsumenten ganz vorne auf der Liste. In Großbritannien gibt es geschätzte 3 bis 4 Millionen Kiffer. 50.000 davon werden jährlich in die akute Psychiatrie eingeliefert, das ist ein Prozent der Bevölkerung. Bei Alkohol sind es prozentual gesehen deutlich weniger“, informierte Bernd Hündersen.  Beim Verbrennen von Cannabis werden krebserregende Stoffe freigesetzt, das Lungenkrebsrisiko ist fast zehnfach so hoch wie beim normalen Zigarettentabak. Bei Männern ist ein signifikant erhöhtes Risiko gegeben, an Blasenkrebs zu erkranken. Was bei der Diskussion um eine mögliche Freigabe von Cannabis-Produkten (1994 wurde das Strafrecht diesbezüglich entschärft) vielfach übersehen wird: Der THC-Gehalt hat sich in den seit 2005 in Umlauf befindlichen Haschisch-Sorten deutlich erhöht. „Ich bin Gelegenheitskonsument von Cannabis und bemerke dann, dass ich nicht mehr schlafen kann und immer nachdenken muss. Das ist kein angenehmer Zustand“, bilanzierte ein Hessenkollegiat seine Expertisen mit ‚weichen Drogen‘.

Nachweis-Verfahren bei Cannabis-Konsum: eine haarige Angelegenheit

Außer in Urin-Ausscheidungen manifestiert sich THC-Konsum auch als Ablagerung in der Körperbehaarung (ungefärbtes Haupthaar und Schambehaarung sind Testgrundlage, die Achselhaare hingegen nicht – wegen DEO-Artefakten). Pro Millimeter wird sequenziert und analysiert. Auf einzelne Monate hin und über einen Gesamtzeitraum von mehreren Jahren lässt sich so exakt eine „Kiffer-Karriere“ rekonstruieren. In einigen Sektoren der Berufswelt sind diesbezügliche Unbedenklichkeitszertifikate eine Einstellungsvoraussetzung.

Haschisch und andere Drogen als medizinische Heilmittel?

Zu Beginn der Veranstaltung hatte Schulleiterin Verena Hohoff Textstellen aus einer aktuellen WNZ-Veröffentlichung („Haschisch als Heilmittel?“) vorgelesen. Auch auf diesen Teilaspekt des Themas Drogenkonsum ging der Referent aus Gießen ein: „Ich erhielt vor kurzem eine Anfrage aus einer Oberstufenschule, ob man dem Wunsch eines angehenden Schülers mit Tourette-Syndrom nachkommen solle, der vorhatte alle 2 Stunden eine Tüte auf dem Schulgelände zu rauchen, weil er dann dem Unterricht unangestrengt folgen könne. Ich habe dringend abgeraten, allein aus pädagogischen Gründen wäre das ein verheerendes Signal gewesen. Eine Kriminalisierung von Drogen macht keinen Sinn. Aber wenn eine medizinische Indikation vorliegt – z.B. der Wunsch nach Schmerzfreiheit – müssen richtig dosierte Drogen-Medikamente über Apotheken gegen Rezept kontrolliert abgegeben werden. Allein schon aus Fürsorge darum, das Krebsrisiko und die Psychose-Gefährdung zu minimieren.“

Das Bewusstsein erweitern – mit Drogen?

Eine kritische Frage aus dem Plenum bezog sich auf die Bezeichnung „bewusstseinserweiternde Drogen“. Das sei doch eine Abirrung gegenüber dem Programm der Aufklärung, wo „Bewusstsein“ inhaltlich mit Erkenntnis, Reflexionsfähigkeit und persönlicher Autonomie einhergehe, wurde argumentiert. Dem sei wohl so, räumte Dr. Hündersen ein, aber für LSD sei in der Tat nachgewiesen, dass ins Unterbewusstsein abgespaltene Teile des Gedächtnisses mobilisiert würden, was man durchaus als Erweiterung der Selbsterfahrungsmöglichkeiten deuten könne. Neben lustvoll-euphorischen Trips berge LSD-Konsum immer auch die Gefahr von scheußlichen Horror-Trips. Er selbst verfüge über Erfahrungen als LSD-Konsument, sei dem Zeug aber nicht verfallen: „Bei zwei gleichaltrigen Weggefährten ist das anders verlaufen. Die verbringen inzwischen den Großteil ihres Daseins in der geschlossenen Psychiatrie.“

In Freiheit zur Selbstverantwortung befähigen

„Gehört nicht zu einer freien Bürgergesellschaft auch die Inanspruchnahme des Rechtes, sich in freier Selbstbestimmung zu Tode saufen oder kiffen zu können“, lautete eine am Schluss der Diskussion gestellte ketzerische Frage, als es um die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten von Drogenkonsum ging. „Das ist nicht meine Position“, antwortete der Gießener Drogen-Fachmann, „ich kenne zu viele Menschen, die mit ihrer Freiheit nicht klarkommen. Wir müssen Menschen befähigen, mit ihrer Freiheit umgehen zu lernen“. Für den Zusammenhang „Kostendämpfung im Gesundheitswesen“ verwies er auf das Faktum, dass das in Deutschland meist genutzte Schlafmittel – „Rohypnol“ – mit 800 Millionen Tagesdosen pro Jahr (d.h. 10 Einheiten pro Bundesbürger/-in jährlich) von den Ärzten verschrieben werde. Das hat aus seiner Sicht seitens der Ärzte mehr mit „Kundenpflege“ als mit medizinischer Notwendigkeit zu tun.