Brecht am Kolleg 2017

Brecht-Matinée am Hessenkolleg mit Schauspieler Erich Schaffner und Pianist Georg Klemp

Wenige Wochen nach dem Tod der aus Wetzlar stammenden weltberühmten Brecht-Interpretin Gisela May kamen Brecht-Texte im Rahmen einer literarischen Matinée am Wetzlarer Hessenkolleg zum Vortrag. Der Schauspieler und Kulturarbeiter Erich Schaffner (Mörfelden) eröffnete  – musikalisch begleitet von seinem Pianisten Georg Klemp (Bad Nauheim) – den Studierenden und den Gästen von der WALI-Theatergruppe Einblicke in das poetische Schaffen und die Theater-Konzeption des 1898 in Augsburg geborenen und 1956 in Berlin verstorbenen Schriftstellers. Brechts Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Faschismus („Lied vom SA-Mann“, „Kälbermarsch“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“) ist mit Blick auf derzeit erfolgreiche rechtspopulistische Demagogen hochaktuell. Während des Kalten Krieges war der Marxist Brecht in westdeutschen Schulbüchern und Theaterprogrammen nicht vertreten. Eine 1960 In Frankfurt/M. angesetzte „Arturo Ui“-Inszenierung war von Protesten der Jungen Union („Die Kosaken kommen!“) und Warnungen der BILD-Zeitung begleitet: „Mit jeder Brecht-Premiere geht ein Stück unserer inneren Abwehrbereitschaft zugrunde“. In Sachen „Vaterlandsliebe“ hielt es der 1933 ausgebürgerte Nazi-Gegner, der nach dem USA-Exil und der Befragung durch den von Senator Mac Carthy geleiteten „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ zunächst die österreichische Staatsbürgerschaft erhielt, mit seinen Figuren „Ziffel“ und „Kalle“ aus den „Flüchtlingsgesprächen“: „Warum soll man ausgerechnet das Land besonders lieben, in dem man seine Steuern zahlen muss?!“. Und: „Ich bin gegen geordnete Zustände in einem Schweinestall.“ In der „Ballade vom Förster und der schwedischen Gräfin“ (1942) ist der wackere Waidmann aufgefordert, der „schönen und bleichen“ Herrschaft Liebesdienste zu erweisen: „Herr Förster! Mein Strumpfband ist los. Knie nieder und bind es mir gleich!“. Der geradlinige Förster verweigert sich diesem Ansinnen: „Frau Gräfin, Frau Gräfin. Seht so mich nicht an, ich diene euch ja für mein Brot, eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt. Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“ Dem Tod auf dem Schlachtfeld ins Auge geschaut haben in den vier langen Jahren 1914 – 1918 Millionen Menschen weltweit. Rund 12 Millionen „fanden dort den Tod“. Als junger Mann hatte Brecht 1918 in der „Legende vom toten Soldaten“ die Phrase vom „Heldentod fürs geliebte Vaterland“ als tumbe und verlogene Kriegspropaganda entlarvt. Schaffner nahm dies zum Anlass, auf „neue alte Töne“ in Sachen Wehrertüchtigung hinzuweisen: „Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere vergnügungssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen“, wurde Bundespräsident Joachim Gauck zitiert. Brecht hatte vor zwei Generationen notiert: „Ihr meint, Frieden und Krieg sind aus verschiedenen Stoffen. Aber der Krieg wächst aus ihrem Frieden, wie der Sohn aus dem Schoß der Mutter wächst.“ Der andere, eher ‚unpolitische‘ Brecht kam u.a. mit dem Liebesgedicht (1920) „Erinnerung an die Marie A“ zum Vortrag. Welche skurrilen Verrenkungen prominente Brecht-Rezensenten zuweilen vollführen, machte  Rezitator Schaffner mit  Zitaten des SZ-Literaturkritikers Willi Winkler („Dieser Pascha ließ die Frauen aus seinem Tross für sich arbeiten“) und einem ‚BILD‘-Bericht über „Erkenntnisse“ des Brecht-Biografen John Fuegi („Brecht scheute die Seife, wie andere Leute das Weihwasser“) deutlich. Dem Reigen aus Liedern, Gedichten, Aphorismen und Kommentaren schloss sich ein „Schauspiel-Werkstatt-Gespräch“ an, bei dem der gelernte Schriftsetzer, Absolvent des Zweiten Bildungsweges und der Frankfurter Schauspielschule Erich Schaffner jenen Hessenkollegiatinnen und Hessenkollegiaten Rede und Antwort stand, die an der Erwachsenenschule das Fach ‚Darstellendes Spiel‘ belegt haben. Der Gast aus Südhessen verriet, dass Reich-Ranickis Schlusswort zum ‚Literarischen Quartett‘ („Und also sehen wir – betroffen – den Vorhang zu / und alle Fragen offen!“) ein von Brecht geprägtes Bonmot ist. Mit Brecht habe die „Dialektik“ in die Theaterlandschaft Einzug gehalten. Dramen-Autor, Regisseur und Schauspieler wollten nicht „belehren“ bzw. eine vorgefertigte „Moral“ vermitteln, vielmehr sollten die Zuschauer zu selbstständigem Denken und Handeln „verführt“ werden. Mit dem Mittel der Verfremdung gelinge es, bekannte Dinge neu zu erfassen, neu zu bewerten und in andere Zusammenhänge einzuordnen. Brechts Ermutigung laute: „Findet das immerfort Vorkommende nicht natürlich!“. Das Theater lebe von der Gestaltung der menschlichen Beziehungen. Und diese könnten auch spielerisch auf einer radikal geänderten Grundlage angesiedelt sein. Menschsein bedeute, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz anzunehmen und in Alternativen denken zu lernen. Die „3 Gesetze der Dialektik“ (1. Widerspruch in der Einheit  2. Quantität vermag in Qualität umzuschlagen 3. Negation der Negation) wurden auf Nachfrage einer Studierenden (Mareike hatte sich in einem DS-Referat bereits mit dem Thema beschäftigt) geschichtsphilosophisch erläutert. Die in den 70er und 80er Jahren populären Stücke des oberbayerischen Dramatikers Franz Xaver Kroetz (bekannt von der TV-Serie ‚Kir Royal‘ als Klatschreporter Baby Schimmerlos) wurden als „naturalistisch“ kategorisiert. Sie geben authentische, „quasi-dokumentarische“ Einblicke in bayerische „Kleine-Leute-Milieus“. Schaffner berichtete von Versuchen, solche Texte wie „Das Nest“  in Brecht’scher Manier „episch“ umzuformatieren, im Spiel die Widersprüche und Entwicklungspotentiale der einzelnen Figuren stärker herauszustellen.  Die Eigenart der typisch Hans-Werner-Fassbinder’schen Regieführung hat Schaffner bei der Erarbeitung des Peter Handke-Stückes „Die Unvernünftigen sterben aus“ kennengelernt. Südlich von Schaffners Wohnort Mörfelden, in dem Riedstädter Ortsteil Leeheim – vis à vis von Georg Büchners Geburtsort Goddelau – , hat ein freies Ensemble aus Südhessen sich eine eigene Spielstätte geschaffen, der sich Schaffner verbunden fühlt. Im Goethe-Jahr 1999 (der 250. Geburtstag des ‚Dichterfürsten‘) entstand unter Schaffners Mitwirkung eine burleske Komödie (gezeigt wurde sie in der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“) über die teils bizarren  Auswüchse der Goethe-Verehrung und Goethe-Vermarktung. Im Fokus steht der gebürtige Bulgare Christo Aprilov, der vom äußeren Erscheinungsbild her dem „Herrn Geheimrat“ zwar wie aus dem Gesicht geschnitten ist, anders als die Vorlage aber kaum ein Wort Deutsch spricht. Spannend und amüsant ist es zu sehen, wie Literaturfreaks und Literaturbanausen darauf reagieren, etwa, wenn er vor der Alten Oper in Frankfurt oder in der Weimaraner Altstadt promeniert. Ob er denn den Studierenden Auskunft darüber geben könne, was „Verzichten-Können“ im Leben eines Schauspielers bedeute, fragte DS-Lehrer Frank Becker den Gast aus Mörfelden. „Prominent“ zu werden sei nie sein vorrangiges Ziel im Beruf gewesen, antwortete der und reichte ein Zitat dazu: „Ein Prominenter ist ein Mensch, der ein Leben lang danach strebt berühmt zu werden und dann eine schwarze Brille aufzieht, damit man ihn nicht erkennt“. Das sozialdemokratisch-kommunistisch geprägte Arbeitermilieu seiner Heimatgemeinde habe ihn gelehrt, anderen Werten und Zielen den Vorzug zu geben. Er erwähnte beispielhaft das von der Einwohnerschaft in Eigenarbeit errichtete Mörfelder Volkshaus, das seit mehreren Generationen als Ort der Begegnung und der Kultur existiere und den Zusammenhalt der Menschen fördere. Eine andere Frage an den „studierten Schauspieler“ bezog sich auf Techniken des Memorierens und Auswendiglernens: „Ich mache mir vor allem zunächst den Inhalt zu eigen, das ist eine Grundvoraussetzung. Und dann macht Übung den Meister. Man darf nicht angstbesetzt das Ziel ansteuern, muss zuversichtlich und locker bleiben. Man muss Dingen mit Neugierde begegnen. Wenn ich mir einen Dramentext aneigne, der auf einer Romanvorlage beruht, lese ich natürlich auch den Roman dazu“, gab „Alt-Kollegiat“ Schaffner den Wetzlarer Studierenden mit auf den Weg.