LG 47 auf „Stolperstein“-Exkursion

Bericht über eine „Stolperstein“-Exkursion von Hessenkollegiaten in der Altstadt Wetzlar mit Zeitzeugin Giesela Jäckel und Stadtführerin Andrea Neischwander

Im HpB-Unterricht (= Historisch-politische Bildung) an den Schulen für Erwachsene geht es im 2. Semester der Qualifiktionsphase  um geschichtliche Entwicklungen „von der Demokratie (Weimarer Republik) zur (NS-) Diktatur“. Dabei werden Aspekte der „NS-Weltanschauung“ (Konzept der ‚völkischen Gemeinschaft‘, Rassismus, Antisemitismus, Antikommunismus, Antiliberalismus, Antihumanismus) ebenso behandelt wie die Umstände und Interessenlagen, die zur Selbstaufgabe der Weimarer Republik („Ermächtigungsgesetz“) und zur Etablierung der braunen Diktatur mit der Gleichschaltung fast aller Lebensbereiche führten. Aber wie hat sich all das „vor Ort“ zugetragen? Die Geschichte des Kolleggebäudes (es wurde 1940 auf Geheiß des Reichsluftfahrtministeriums als Waffenschmiede von der Firma Pfeiffer Apparatebau erstellt – u.a. wurden hier Bauteile für Hitlers „V“ /= Vergeltungswaffen/ hergestellt) ist im Rahmen einer Projektwoche in 2013 unter Mitwirkung der Historikerin und ehemaligen Kollegiatin Marianne Peter untersucht und dokumentiert worden. Eine Gedenkplakette am Schulportal weist auf das Schicksal des Polen Thomasz Kiryllow und 8000 anderer Zwangsarbeiter/-innen während des 2. Weltkrieges in Wetzlar und Umgebung hin. Eine Zeitzeugin dieser bereits 2 Generationen zurückliegenden Ereignisse ist Gisela Jäckel, die mit dem Mädchenname Best 1934 in Wetzlar als Kind einer jüdischen Mutter und eines evangelischen Christen geboren wurde. Im Gefolge der „Nürnberger Rassengesetze“ (1935) und der systematischen Judenvernichtung während des Krieges verlor Frau Jäckel, die zusammen mit ihrem Ehemann Manfred gegenüber dem Hessenkolleggebäude in der Brühlsbachstraße wohnt, bereits als 7-jähriges Kind ihre beiden Großeltern Berta und Josef Lyon, ihre Mutter Rosa Best und die beiden Tanten Lina Wollmann und Paula Weber an den Rassenwahnsinn der Nazis. Dass sie selbst kurz vor Kriegsende nicht auch noch als „jüdisches Mischlingskind“ auf Transport in ein Vernichtungslager geschickt wurde, hat sie allein dem schnellen Vorrücken der Alliierten im Frühjahr 1945 zu verdanken. In der Krämerstraße, wo ein Stolperstein an die im Mai 1943 nach Auschwitz deportierte Mutter erinnert, erzählte die 82-Jährige, wie sie damals beim „Treppengeländer-Runterrutschen“ von Wohnungsnachbarn als „Judenbalg“ geschmäht und verhöhnt wurde. Am Liebfrauenberg, wo ihr Großvater einen Altwarenhandel betrieb, fand sie am 13. April 1940 die Haustür verschlossen vor. Der Besitz von Berta und Josef Lyon wurde in einer Gaststätte öffentlich versteigert: „Ich habe mich zur Gaststätte Ackermann hingeschlichen. Zwischen all den Sachen habe ich nach meiner Puppe gesucht, die ich bei meiner Großmutter aufs Sofa gesetzt hatte. Meine Puppe war aber nicht mehr da“, erinnert sich Gisela Jäckel an das 75 Jahre zurückliegende Geschehen. In der Zuckergasse, am unteren Beginn der Altstadt-Fußgängerzone, erinnert ein weiterer Stolperstein an Paula Weber, die 1913 geborene Tante von Frau Jäckel. Nach deren Ermordung wandte sich der Witwer mit der Frage an den damaligen NS-Leiter Wilhelm Haus, was denn nun aus seinen vier Kindern werden soll, die jetzt keine Mutter mehr haben. „Die hängen wir demnächst auch noch hin!“, war die brutale Antwort des Obernazis. Für die Ermordung der Großeltern wurde Gisela Jäckel – mit Unterstützung der ‚VVN/Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes‘ – in den 50er Jahren mit 250,- DM „entschädigt“, für den Tod der Mutter erhielt sie 500 DM „Wiedergutmachung“ vom BRD-Staat. Stadtführerin Andrea Neischwander las am Stolperstein für Paula Weber aus einem Schreiben der „NS-Frauenschaft“ vor, wo mit Blick auf die Ermordung junger, arbeitsfähiger jüdischer Frauen der Vorschlag unterbreitet wurde, ob hier nicht eine Sterilisierungsmaßnahme das Gebot der Stunde sei, um so zum Endsieg beizutragen. Unter den teilnehmenden Hessenkollegiaten war auch David Izkovitz aus Braunfels,  dessen Vorfahren – Berliner Juden –  ebenfalls Opfer des faschistischen Rassenwahns wurden. Gisela Jäckel dankte den jungen Leuten für ihr Interesse („Ich habe 3 Jahrzehnte gebraucht, um darüber öffentlich reden zu können“) und ermutigte die Hessenkollegiaten dazu, „aus dem Unheil der Vergangenheit zu lernen, weil so etwas nie wieder geschehen darf!“.