W. Gerster referiert: „Kräuterwissen einst und jetzt“

Bericht über den Vortrag des Braunfelser Botanikers Wolfgang Gerster am Hessenkolleg (18. Mai 2016) im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Heimische Autoren stellen am Kolleg ihre Texte vor“.

Auf dem Wege zur ‚Wissensgesellschaft‘ wurden viele überlieferte Mythen durch gesichertes Wissen ersetzt. Technik, standardisierte Methoden und ‚nackte Tatsachen‘ bestimmen das heute vorherrschende Welt- und Menschenbild. Das vom Braunfelser Botaniker Wolfgang Gerster 2011 im Verlag Quelle und Meyer veröffentlichte 235-seitige Buch „Kräuterwissen – einst und jetzt“ stellt die Kenntnisse und die Gedankenwelten des Heute, des Mittelalters und der Renaissancezeit vergleichend gegenüber. Im Rahmen der Vortragsreihe „Heimische Autoren stellen ihre Texte am Hessenkolleg vor“ ließ der 82-jährige frühere Englisch- und Biologielehrer an seiner früheren Schule Studierende des 48er Lehrgangs an seinem umfangreichen naturkundlichen und kulturgeschichtlichen Wissen teilhaben. Die botanisch-pharmazeutischen Kenntnisse um das Jahr 1500 gründeten auf Textquellen und Zeichnungen von „alten“ Griechen und Römern wie Theophrastos von Eresos (372-287 v. Chr.), dem Initiator der modernen Forstwirtschaft Pedanios Dioskurides (ca. 70 n. Chr.) oder dem Araber Abu Ali al-Husayn ibn Abdullah ibn Sina (latinisiert: Avicenna, 1488-1534). Gerster maß den mit der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ einhergehenden neuen Horizonten eine ähnlich bahnbrechende Bedeutung bei, wie sie heutzutage der Digitalisierung der Wissensspeicher zukommt. Die Renaissance-Botaniker Otto von Brunfels (1488-1534), Leonhart Fuchs (1501-1566) und Hieronymus Bock (1498-1554) waren im „Brotberuf“ eigentlich Lehrer, Ärzte und Theologen. Alle drei trugen dazu bei, dass sich im deutschsprachigen Raum eine einheitliche Nomenklatur für Heilpflanzen entwickelte. Naturwissenschaft wurde zur exakten Wissenschaft. Grundlage dafür waren exakte Zeichnungen, wie sie etwa von Albrecht Füllmaurer und Albrecht Meyer angefertigt wurden, von denen dann ein Veyt Speckle Druckstöcke herstellte, damit die filigranen Zeichnungen als Buch-Illustrationen verwendet werden konnten. „Von Brunfels“ war kein Adelstitel, vielmehr stand Ottos Vater Johannes als Kellermeister und Mundschenk im Dienst des Grafen Otto II. von Solms-Braunfels. Nach Otto wurde eine violett blühende Strauchpflanze aus Amerika, die wie Kartoffel und Tomate zur Familie der Nachtschattengewächse gehört, ‚Brunfelsia‘ genannt. Am Beispiel von Schöllkraut und geflecktem Lungenkraut machte Gerster seinen Zuhörern klar, was man unter „Signaturlehre“ versteht. Die bei oberflächlicher Betrachtung drei-lappigen Blätter des Schöllkrautes erinnern an die drei Leberlappen, der milchige, gelb-orangene Spross-Saft wiederum erinnert an Gallenflüssigkeit, weshalb dem Schöllkraut Heilkraft bei Leberleiden zugeschrieben wurde. Beim Lungenkraut sind es die hellen Flecken im Blattgewebe, die hellen Stellen im Lungengewebe ähneln. Vom Eisenkraut, das als Reiseutensil mitgeführt wurde,  hieß es, dass man damit beim Gastgeber eine freundliche Aufnahme erreichen könne. Schon im alten Rom sind Jupiter-Altäre mit Eisenkraut-Essenzen gereinigt worden, wusste Gerster zu berichten. In seinem Buch über Kräuterwissen einst und jetzt sind die historischen Abbildungen und Begleittexte von 100 Heilkräutern synoptisch dem heutigen Wissen gegenübergestellt. Von seinem vor 13 Jahren am Fuß der Schlossmauer eingerichteten Heilkräuterpfad hatte der Braunfelser Ortsvorsteher einige Pflanzen zu Demonstrationszwecken mitgebracht, darunter das Kohlgewächs Knoblauchsrauke und den in der Volksmedizin zur Überwindung von Kinderlosigkeit eingesetzten stinkenden Storchschnabel. Im Lichtbilder-Vortrag wurden u.a. Meerrettich, Knoblauch und Baldrian vorgestellt. Eine Kollegiatin wurde von Gerster mit einem Zweig „rundblättriger Minze“ bedacht, um im Eigenbau Tee zuzubereiten. Die aus Schottland stammende Pfefferminze enthält Menthol. Dies wirkt kühlend, krampflösend, durchblutungsfördernd und desinfizierend. Die aus der Minze extrahierten ätherischen Öle werden bei Kopfschmerzen zum Einreiben an den Schläfen verwendet und bei Erkältungen zur Inhalation in heißes Wasser gegeben. Kollegleiterin Verena Hohoff bedankte sich bei Gerster für den interessanten Vortrag und für dessen enge Verbundenheit mit seiner alten Wirkungsstätte. Biologielehrer Klaus Petri überreichte dem Kollegen aus der „Pionier-Generation“ der Erwachsenenschule ein Buchgeschenk (Fritz Philippi – um 1900 als Pfarrer im Kirchspiel Breitscheid tätig – : ‚Pfarrer Hirsekorn und seine Zuchthausbrüder‘) sowie eine Flasche naturtrüben Apfelsaft, gekeltert aus „Früchten von Hinterländer Streuobstwiesen“.