LG 47 besucht die Gedenkstätte Hadamar

Bericht über einen Besuch der Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar durch Studierende des LG 47 am HKWz (am 3 Mai 2016)

Die Idee dazu, einmal die 1 Autostunde von Wetzlar entfernt liegende Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar zu besuchen, entstand während des Biologie-Unterrichts im 1. Semester der Qualifikations-phase, als im Rahmen des Semesterthemas „Genetik“ auch ein kleiner Exkurs zum Themenkomplex „Sozialdarwinismus/Rassenhygiene/Eugenik/Euthanasie“ stattfand. Im HpB-Unterricht des 2. Semesters der Q-Phase ist „Der Weg von der Demokratie zur Diktatur“ Semesterthema – darin eingeschlossen natürlich auch die Verbrechen der braunen Diktatur. Auf Interesse stieß diese außerunterrichtliche Unternehmung auch im Vorstand des Förderkreises. Neben einer finanziellen und ideellen Unterstützung führte das zur Teilnahme von Vorstandsmitgliedern am Halbtagesausflug ins Limburger Umland. Herr Bücher (ein ehemaliger Lehrer) und Frau Sucke (beschäftigt beim Stadtmarketing in Hadamar) empfingen die knapp 40 wissbegierigen Gäste aus Wetzlar und begleiteten die in zwei Gruppen eingeteilte rund dreistündige Führung durch die Gedenkstätte. Der „Startschuss“ für die Registrierung, Verfolgung und spätere Ermordung von Behinderten erfolgte mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ am 14 Juli 1933. Die Ärzteschaft war in dieser Zeit jene Berufsgruppe, die proportional am meisten NSDAP-Mitglieder in ihren Reihen zählte. Sie sahen sich als „Züchtungsbeauftragte“ zur Schaffung eines „gesunden und reinrassigen Volkskörpers“. Das Skalpell und die physische Vernichtung von „Erbkranken“ traten an die Stelle von Sozialpolitik und pflegerischen Maßnahmen. Alle Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich waren aufgefordert, ihre Patienten in einem „Meldebogen“ zu erfassen. Dort wurde beispielsweise, um den Blick auf ‚unnütze Esser‘ zu schärfen, nach der Art der Tätigkeit der Patienten gefragt („in der Feldarbeit tätig“ oder „leistet nicht viel“ gehörte zu den möglichen Antworten). In der Zeit vor Kriegsbeginn wurden überwiegend Sterilisationen („zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“) vorgenommen. Rund 400.000 Menschen wurden Opfer dieser barbarischen Art von „Bevölkerungs-politik“. Sie wurden – oftmals willkürlich und ohne gesicherte medizinische Diagnose – den folgenden „Krankheitsbildern“ zugeordnet: – angeborener Schwachsinn; – Schizophrenie; – manisch-depressives Irresein; – erbliche Blindheit/Taubheit; – schwere erbliche körperliche Missbildung; – schwerer Alkoholismus. Kranke wurden durch eine entsprechende Propaganda (in „Lehr“-Filmen, Spielfilmen, auf Plakaten und mit Schulbuch-Texten) zu Volksschädlingen und unnützen Essern herabgewürdigt. Die Bildunterschrift eines Plakates, auf dem ein ‚gesunder Arier‘ zwei ‚Ballast-Existenzen‘ tragen muss, lautet: „Der Erbkranke kostet die Volksgemeinschaft bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres 50.000 RM“. In einem Mathe-Buch besteht die Aufgabe darin auszurechnen, wie viele Siedlungshäuser à 15.000 RM man bauen kann, wenn auf die 6 Mio. teure „Irrenanstalt“ verzichtet wird.  Birgit Sucke zitierte in dem Zusammenhang den damaligen Reichspropagandachef Joseph Goebbels („Ziel der Propaganda ist es, einen Menschen so mit einer Idee zu durchsetzen, dass ihm dabei nicht bewusst wird, wie und durch wen er gesteuert wird“) und führte das von der Frankfurter Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach vor kurzem gepostete Foto („Wo kommst du denn her?“, fragen mehrere dunkelhäutige Jugendliche, die in Deutschland 2030 bereits die Mehrheit stellen, ein kleines blondes, verloren wirkendes Kind) als Beispiel dafür an, dass rassistische Botschaften auf eine suggestive Art massenwirksam werden. Ein „Reichsleiter Bouhler“ und ein „Dr. med. Brandt“ sind die unmittelbaren Adressaten des vom Führer und Reichskanzler A.H. gezeichneten „Euthanasie-Erlasses“ vom Oktober 1939, der auf den 1. September (Tag des Kriegsbeginns) rückdatiert worden ist. Die Mediziner werden beauftragt dafür Sorge zu tragen, dass „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken der ‚Gnadentod‘ gewährt werden kann“. Ärzte verurteilten daraufhin zehntausendfach Menschen zum Tode, die sie nie persönlich in Augenschein genommen hatten. „In der Anstalt nicht regelmäßig Besuch (zu) bekommen“ – als Eintrag im behördlichen Meldebogen – war so gesehen schon ein halbes Todesurteil. Die Täter der „Tötungszentrale“ hatten ihre Büros und Schreibtische in der Berliner „Tiergartenstraße 4“, weshalb die  8 Monate (Januar bis August 1940) währende Euthanasie-Aktion auch den Decknamen „T4-Aktion“ trug. Etwa ein halbes Dutzend der reichsweit 74 „Heil- und Pflegeanstalten“ wurden zu Mordanstalten umfunktioniert. In einem Holzgaragen-Bau beginnt für die Besuchergruppen „der Weg, den die Opfer an ihrem Lebensende gehen mussten“. In diesem Zeitraum hat niemand als Patient eine Nacht in der Anstalt verbracht. Nach dem Auskleiden gingen die Todgeweihten in 30-40er Gruppen in den Keller, wo sie in einer als Duschraum getarnten Gaskammer mit Kohlenmonoxyd erstickt wurden. Im Raum nebenan wurde vereinzelt seziert (z.B. um das Gehirn zu entnehmen), über eine „Schleifbahn“ wurden die leblosen Körper dann zum Verbrennungsofen gebracht. Die Rauchsäule über dem Krematorium war weithin im Limburger Land zu sehen, wovon ein Bild aus dieser Zeit zeugt. Die Asche der rund 10.000 in dieser ersten Phase Ermordeten wurde mutmaßlich in den durch Hadamar fließenden „Elb-Bach“ verbracht. „Der soll manchmal richtig schwarz gewesen sein“, wusste Birgit Sucke zu berichten. Im sächsischen Pirna wurde die Asche der in der Tötungsanstalt „Sonnenstein“ Ermordeten in die vorbeifließende Elbe gekippt. Das Anschreiben an die Hinterbliebenen enthielt die Aufforderung zur Entrichtung von 50 RM als „Beitrag zur Grabpflege“ und es wurde darin eine Empfehlung für die Zeit der Trauer ausgesprochen: „Sie müssen den Tod als Erlösung ansehen.“ Die Ärzte gaben fingierte Todesursachen an. In einem Fall soll ein Patient an „Blinddarmdurchbruch“ gestorben sein, dem bereits lange vorher der Blinddarm entfernt worden war. Die sofortige Einäscherung der Verstorbenen wurde mit einer andernfalls gegebenen „Infektionsgefahr“ begründet. Aufgrund der um eine Woche nachdatierten Todeszeit konnten die „Todes-Manager“ für die Ermordeten noch zusätzliches Pflegegeld für sich verbuchen. Die Hessenkollegiaten Elyas B. und Attila B. lasen biografische Angaben und Auszüge aus persönlichen Briefen von Euthanasie-Opfern. Paula Bottländer (1892-1940) schrieb beispielsweise kurz vor ihrem Tod einen liebevollen Brief an ihre 15-jährige Tochter Margot. Die damalige Empfängerin ist heute 91 Jahre alt und steht in Kontakt mit dem Team der Gedenkstätte. Dass die T4-Aktion nach 8 Monaten gestoppt wurde, hat auch etwas mit einer mutigen Predigt des Münsteraner Kardinals Graf von Galen zu tun, der in seinem Hirtenbrief vom 3. August 1940 darauf hinwies, dass es sich bei den Euthanasie-Opfern „um Menschen“ handele und diese Mahnung mit dem Hinweis verband, dass grundsätzlich jeder im Alter schwach und pflegebedürftig werden könne. „Widerstand leisten ist sicher etwas anderes, aber Bischof Galen hat immerhin eine Tatsache unters Volk gebracht“, kommentierte Gedenkstätten-Mitarbeiterin Sucke. „In Hadamar geröstet werden“ oder „durch den Schornstein gehen“ waren verbreitete Redensarten, die davon zeugen, dass „man“ mehrheitlich „etwas gewusst“ – zumindest jedoch Entsprechendes geahnt hat. Eine offene, gar kritische Kommentierung war ein striktes Tabu, an das sich fast alle in Hadamar und Umgebung hielten. Von einer Limburgerin ist bekannt, dass sie für ihre Bemerkung „Es ist doch klar, was da oben auf dem Mönchsberg geschieht!“ für 6 Monate ins Frauen-KZ Ravensbrück verbracht wurde. Entgegen früheren Annahmen gilt es inzwischen als geklärt, dass die beiden Verbrennungsöfen – von denen im Kellerraum eine großformatige Fotografie zu sehen ist – nicht in den großen Vernichtungslagern im Osten wiederverwendet wurden. Einer der Mordbrenner von Hadamar, der gelernte Schlosser und SS-Mann Hubert Gomerski, setzte seine Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor (Ostpolen) fort. „Wilde Euthanasie“ wird die zweite Mordphase genannt, der in Hadamar zwischen Sommer 1942 und Frühjahr 1945 noch einmal rund 5000 Menschen zum Opfer fallen. Die Tötungsarten reichen hier von der Verabreichung toxischer Medikamente und dem Setzen von Todesspritzen bis zum gezielten Verhungernlassen. In diesem Zeitraum lebten 350-400 Patienten in der Anstalt Hadamar, die an umliegende Betriebe und Bauernhöfe – z.B. als Erntehelfer – „ausgeliehen“ wurden. Die Patienten wussten, dass hier gezielt getötet wird. Die Sterberate lag bei über 90 Prozent. An die Anstaltsschwestern erging die Order: „Wenn ihr nicht dabei helft, bekommt ihr auch eine Spritze“. In einer Nachbetrachtung im Seminarraum verlasen Studierende des Hessenkollegs ausgewählte Kurzbiografien einzelner Opfer der „wilden Euthanasie“, per Beamer-Projektion wurden entsprechende Fotos gezeigt. Ein 1927 in Prenzlau geborener Junge (Richard D.) wächst zunächst in einer Pflegefamilie auf, kommt anschließend bei einem Bauern unter und wird 3 Monate nach seiner Ankunft in Hadamar umgebracht. Der Wehrmachtssoldat Otto Curth ist für den Kriegsdienst nicht mehr zu gebrauchen und wird nach Hadamar abgeschoben. Ein ähnliches Schicksal erleiden polnische, ukrainische und russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, einige davon aus Wetzlarer Rüstungsbetrieben. Hier haben die Firmenleitungen mit den zuständigen Gesundheitsämtern und der örtlichen Gestapo zusammengearbeitet. Die am 9.5.1935 mit Down-Syndrom geborene Christa Maar wird ebenso in Hadamar umgebracht wie die 1930 und 1931 geborenen „jüdischen Mischlingskinder“ Wolfram und Günter. Die Opfer der 2. Euthanasiephase wurden überwiegend in Massengräbern auf dem Anstaltsgelände beigesetzt. Das terrassierte Gelände oberhalb der Anstaltsgebäude ist mit anonymen Gedenkplaketten markiert. Eine Stele enthält die Inschrift „Mensch – achte den Menschen“. Die Umwandlung des Friedhofs in eine Art Parklandschaft erfolgte 1964. Im doppelten Wortsinn „wuchs Gras“ über das ungeheuerliche Geschehen der Jahre 1940-1945. Eine öffentliche kritisch-historische Aufarbeitung begann Anfang der 80er Jahre. Dazu gehörte auch die Entfernung und symbolische Bestattung von Organen der in Hadamar Ermordeten, die vorher in anatomischen Sammlungen deutscher Universitäten als Anschauungspräparate dienten. Die Gedenkstätte – getragen vom hessischen Landeswohlfahrtsverband – gibt es seit rund 25 Jahren. Sie ist als Ort politischer Bildung und historischen Gedenkens stark nachgefragt und spielt zum Beispiel in der Ausbildung angehender Krankenpfleger und –schwestern eine Rolle. Nach 3 Stunden konzentrierter Beschäftigung mit wohnortnaher Historie formulierte Arno Willershäuser als Vorsitzender des Förderkreises des Hessenkollegs einen Appell an die Studierenden: „Sagt NEIN!, wenn man euch für Sachen missbrauchen will, die ihr nicht für richtig haltet. Ich bin noch vor Kriegsende geboren, weiß aber von meinem im Krieg umgekommenen Vater praktisch nur aus Erzählungen anderer. Er war überzeugter Nationalsozialist, hat aber angesichts der erlebten Gräuel bei einem Fronturlaub kurz vor Toresschluss zu seinen Verwandten und Bekannten gesagt: ‚Ich schieße auf keinen Russen mehr!‘“.

Im Gästebuch der Gedenkstätte gibt es mit Datum 3. Mai 2016 den folgenden Eintrag:

„Wir – Studierende des LG 47 am Wetzlarer Hessenkolleg – bekräftigen nach dem Ausstellungsbesuch einen Appell, den es vor 3 Wochen aus Anlass des Einzugs einer 5-köpfigen NPD-Fraktion (7,8 % ) in das Wetzlarer Stadtparlament gab: „NIE WIEDER 1933!“