Romanautor L. Seidl liest im Kolleg 2013

Bericht über die Lesung mit Leonhard Seidl (Roman „Mutterkorn“) am 5.12.2013 im Hessenkolleg

Wurde die Dimension rechtsextremer Gewaltbereitschaft bisher unterschätzt? Der Nürnberger Romanautor Leonhard F. Seidl hat bei Lesungen aus seinem Roman „Mutterkorn“ die Erfahrung gemacht, dass vor der Entdeckung der NSU-Mordserie das Thema beschwiegen und kleingeredet wurde. Das beginne sich jetzt zu ändern. Der gelernte Krankenpfleger und Sozialpädagoge absolviert derzeit auf Einladung von DGB-Jugendsekretärin Ulrike Eifler eine Lesereise mit 7 Stationen in Mittelhessen, darunter am Hessenkolleg Wetzlar und im „Harlekin“. Der 1976 geborene Franke sieht darin einen notwendigen Beitrag für eine funktionierende Zivilgesellschaft: „Dass wir uns bei der Abwehr rechter Gewalttäter nicht auf Staatsschutz und Polizei verlassen können, ist wohl durch die 11 NSU-Morde hinreichend klargeworden.“ Fünf dieser Morde haben sich in Seidls Heimatregion ereignet. Er tritt dort als „Pate“ der Aktion „Schulen ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in Erscheinung und erarbeitet aktuell eine Ausstellung zu dem Thema „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“. Zudem schreibt er an seinem 2. Roman und beliefert das Satiremagazin „Eulenspiegel“ mit Texten. Kernthemen seines im Juni 2011 erschienenen Romans „Mutterkorn“ sind Drogenabhängigkeit und Gewalt. Sein jugendlicher Protagonist Albin O. ist angehender Altenpfleger und politischer Punk. Er träumt von einer Art des Zusammenlebens, wo die Würde alter Menschen trotz Hilflosigkeit und Gedächtnisverlust gewahrt wird. An seinem Arbeitsplatz, dem Pflegeheim „Hasenberg“, sehen das nicht alle so. Sein Kollege Torben treibt seine zynischen Späße mit einem schwerhörigen Kriegsinvaliden: „Sie dürfen jetzt wegtreten, Soldat! Wünsche, wohl zu ruhen, Kamerad!“  Kollege „Bomber“ geht damit hausieren, gemeinsam mit Kameraden einen Griechen „zu Souvlaki zerlegt“ zu haben. Die Figur ist dem Münchner Neonazi Martin Wiese nachempfunden, der 2003 ein Bombenattentat bei der Grundsteinlegung der Münchner Synagoge geplant hatte. Einigen der 50 Hessenkollegiaten lief es kalt den Rücken herunter, als Seidl Dokumentaraufnahmen aus 1992 von der Brandschatzung des „Sonnenblumenhauses“ in Rostock-Lichtenhagen einblendete. Die Staatsgewalt hatte ihr Gewaltmonopol 4 Tage lang dem marodierenden Mob abgetreten. Unglaublich die Kommentierung der damals zum Volksfest gewordenen Menschenjagd durch den zuständigen Ordnungsamtsleiter: „Hier bringen Bürger ihre Verärgerung zum Ausdruck. Wir haben das akzeptiert, wie wir auch Laternenumzüge akzeptieren.“ Die Notausgänge in dem Flüchtlingsheim waren im Zusammenspiel von „Faschos und Normalos“ verbarrikadiert, die johlende Menge skandierte „Wir rösten euch!“ sowie „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“.