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Harlekin 2012

Bericht über DS-Darbietungen am Donnerstag, d. 28.06.2012, im „Harlekin“

Ein Höhepunkt im Schulleben des Hessenkollegs ist der inzwischen schon zur Tradition gewordene Theaterabend auf der Kleinkunstbühne des „Harlekin“ – jeweils am Donnerstag vor Beginn der großen Ferien. In 2012 fiel dieser Termin mit dem Fußball-Semifinalspiel Deutschland-Italien zusammen, weshalb das Bühnenprogramm etwas vorverlegt (18 bis 21h) worden war – und den schauspielerischen Leistungen noch der zweifelhafte Genuss italienischer Ball-Artistik (das Spiel ging für die deutsche Equipe mit 1:2 verloren) folgte.

DS-Lehrkraft Frank Becker begrüßte die rund 60 Besucherinnen und Besucher und erläuterte die Vorgaben für die Akteure (durchweg Studierende des LG 42): Die gewählten Dramen-Szenen konnten zur knappen Hälfte dem Original-Text entsprechen, für die übrigen Dialog-Anteile waren Improvisation und eigene Phantasie gefragt.

 

Andrea Franz, André Kramer, Lina Kaschmieder und Christoph Tauber haben sich am „Faust“-Stoff  versucht, was von Frank Becker als „mutige Entscheidung“ bewertet wurde. Im Jahr 1587 – also zwei Jahrhunderte bevor Dichtergenius J.W. Goethe mit diesem Stoff brillierte – gab es die deutschsprachige Erstausgabe der Geschichte um den Doktor Heinrich Faustus, der sich mit dem Teufel verbündet, um seine hoch fliegenden Wünsche zu befriedigen. Bereits im Folgejahr 1588 erschien die englische Ausgabe unter dem Titel „Tragicall History of Doctor Faustus“, herausgegeben vom Dichtergenie Christopher Marlowe, einem Zeitgenossen (und Ghostwriter?) William Shakespeares.

Christoph Tauber gab den Universalgelehrten Dr. Faustus als nachdenklichen, ernsthaft und asketisch lebenden und forschenden Menschen. Auch heute fast altmodisch anmutende Dinge wie der Besitz eines „Gewissens“, das man für anstehende Entscheidungen zu Rate zieht, gehören zu dieser – zwischen Mittelalter und neuzeitlicher Moderne angesiedelten – Ausnahmepersönlichkeit. Ein Gefühl von Ausgefülltheit und Glücksmomente wollen sich aber – trotz aller intellektuellen Anstrengungen – nicht einstellen. Und Verzweiflung droht von Dr. Faustus Besitz zu ergreifen. Hier setzt der Teufel mit seinen Verführungskünsten an. Und verlangt dessen Seele als Wetteinsatz – wissend, dass derlei mythologisch-metaphysischen Kategorien im Denken und Fühlen des rationalen Menschen der heraufziehenden Moderne wenig Bedeutung beigemessen wird. Aber Dr. Faustus ist kein Naivling, will überzeugende Argumente für diesen Deal hören. Teufelsassistentin Nr. 1 (Andrea Franz) führt dem Umworbenen plastisch vor Augen, dass die permanente Stimulation von Geschmacksknospen und Mageninnenwand mittels Birnen und Bananen eine ungewöhnliche Daseinsform hervorbringt. Aber ist das Ungewöhnliche auch das Erstrebenswerte, Glückverheißende? Teufelsassistentin Nr. 2 (Lina Kaschmieder) hat – rittlings auf dem Unterleib des Kopfmenschen hockend – Perma-Sex im Angebot: „Ich will jetzt ficken, Faust, du willst es doch auch?! Komm, lass es uns die ganze Nacht treiben!“

Der Höllenmeister selbst schwenkt eine Giga-Flasche Coca Cola und sein diabolisches Bankmanager-Outfit ist um eine „KiK“-Banderole ergänzt, was ihn mit Kinderarbeit, Billigkonsum und Massenelend abseits der konsumkapitalistischen Speckgürtel in Verbindung  setzt. Fazit: Wenn die Beschäftigung mit dem Faust-Stoff ein Wagnis ist, kann man für die Dialoggestaltung, die Dramaturgie und die schauspielerischen Leistungen in diesem Fall bilanzieren „Nur wer wagt, gewinnt!“

Einen anderen Zuschnitt für Faust und seinen Widerpart Mephisto hatten Björn Frey-Fribolin (Faust), Daniel Zolper (Mephisto) und Heiko Bubert (mit grauem Rauschebart: Gott himself) gewählt. Der vom latenten „Jägermeister“-Konsum gezeichnete, in fleckiger Schießer-Feinripp-Unterwäsche herumtorkelnde Filmemacher Faust ist weit davon entfernt, ein „Ebenbild Gottes“ zu sein. Er bedarf der permanenten Führung und Fürsorge durch seinen Schöpfer-Gott (als ruhender Pol des ansonsten irrwitzig-urigen Weltenlaufes überzeugend von einem Yoga-Lehrer mit beeindruckender Statur und in orientalischem Gewand gespielt). Flüche, Brüllen, Stöhnen, Rülpsen und die ganze Palette animalischer Laute gab es in der Auseinandersetzung zwischen „Gut“ und „Böse“ zuhauf. An „klassischen Textfragmenten“ wurde u.a. auf die Faust I-Szenen „Prolog im Himmel“ und „Begegnung Fausts mit seinem Famulus Wagner im Studierzimmer“ des Goethe-Dramas zurückgegriffen. Der Clou dieser sehr leidenschaftlich gespielten Inszenierung: Die inneren Konflikte des „Götterlieblings“ Dr. Faust werden als explosive Ringkämpfe zwischen dem Schöpfer aller Erden und seinem abtrünnigen Jünger ausgetragen. Der Teufel gleicht dabei mal einer sprungbereiten Raubkatze, mal einem äffischen Frühmenschen, der sich nicht scheut, seine Zuschauer mit dem entblößten Gesäß zu schmähen. Dem Protagonisten der Humanitas sind – gemessen an der bereits mehrere Jahrhunderte alten Vorlage – Autonomie, Verantwortung, Selbstdisziplin, Selbstbewusstsein und intellektuelle Maßstäbe abhanden gekommen. Björn Frey-Fribolins Spiel changierte zwischen Clochard und Dekadent. Ein Sinnbild für die Eliten der „entgrenzten“ Gesellschaft? Als Filmemacher lebt (eigentlich: verdämmert!) er offenbar in Unkenntnis über die Standards von Aufklärung und Klassik in seinem Metier. Ein halbseidener Medien-Fuzzi namens Gerhard ARTE – auf eine coole, schmierig-zynische Art überzeugend gespielt von Hakki Sen – ist Fausts redegewandter Alter Ego. Ein zum „Casting“ angetretener Jonglage-Debütant (talentiert und kreativ: Heiko Bubert) wird verhöhnt und als TV-inkompatibel weggeschickt. Der mediale Mainstream  weist (mit oder ohne Faust) ungebremst in Richtung „Unterschichten-Fernsehen“ (es zählt: Quote! Quote! Quote! – 1000 Scheißfliegen können nicht irren!), das mit „RTL 3“ auch einen passenden Namen hat. Davon, dass die literarische Bühnen-Fiktion und der aktuelle Ist-Zustand der Massenunterhaltung durch  die „Privaten“ deckungsgleich sind, konnten sich die Zuschauer mittels Einblendungen (keifende Laien-Darsteller/-innen aus dem TV-Nachmittagsprogramm) überzeugen.

Neben „Faust“ gehört Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ (entstanden 1836, veröffentlicht 1878) zu den auf deutschen Bühnen meist gespielten Stücken. Auf der Harlekin-Bühne haben sich Sandra Hinke (als Marie) und Benjamin Trenkler (Woyzeck) dieser Herausforderung gestellt. Beide nahmen sich die Freiheit, das „unhappy-end“ – die Ermordung Maries durch den rasend-eifersüchtigen Vater ihres Kindes – bereits in der 1. Szene vorwegzunehmen: „Friert’s dich Marie? Und doch bist du warm. Was du heiße Lippen hast! Heiß Hurenatem! Und wenn man kalt ist so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgenthau nicht frieren.“ Im Sinne des Gesellschaftskritikers Büchners („Was ist das, was uns stehlen, lügen und morden lässt?“) werden die Lebensumstände des unverheirateten Paares (für eine Heirat fehlt das Geld) transparent gemacht. Was heute „prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ genannt wird, bestimmte in der Vor- und Frühzeit der Industriegesellschaft die Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit, deren Protagonist der einfache Soldat Woyzeck ist. Schlecht entlohnte Handlagerdienste und die Selbsterniedrigung als Objekt medizinischer Versuche machen ihn zu einem gehetzten, von imaginären „Stimmen“ getriebenen Menschen. Als sein Lebensinhalt, für Frau und Kind da zu sein, durch den Treuebruch Maries ins Rutschen gerät, nimmt er – einem waidwund geschossenen Tier gleich –  ungestüm Rache. Berserkerhaft überwältigt der Zwei-Meter-Mann die zierliche, um drei Köpfe kleinere „Sünderin“. Der irre Blick und die zersausten schulterlangen Haare des Hünen unterstreichen das Abgründige, Nicht-Menschengemäße dieser Bluttat. Eine weitere, gar nicht so düstere Szene – die im Büchner’schen Original natürlich fehlt – stimmt optimistisch und verweist darauf, dass die „kleine Welt“ der Partnerbeziehung in eine größere, gesamtgesellschaftliche Welt eingebunden ist: Marie und Woyzeck sind – trotz Kind – beide berufstätig und führen am Familientisch ein entspanntes Gespräch über ihre Erlebnisse am Arbeitsplatz. Woyzeck kann, wenn es die gesellschaftlichen Umstände zulassen, zu dem werden, was in ihm ohnehin ‚angelegt ist’: zum gütigen Familienmenschen und interessierten Gatten. Damit wäre dann auch schon die „höhere“ Büchner’sche ‚Moral’ verortet, die der Autor des „Woyzeck“ seiner Hauptmannsfigur und deren vordergründig bleibenden Spießermoral („Woyzeck, Er hat keine Moral. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Garnisonsprediger sagt…“) entgegensetzt.